Witten. Er sollte vor den Russen auf die Knie gehen. Als sich Juri (54) weigerte, schlugen sie ihn. Über die schrecklichen Folgen redet er nun in Witten.
Zum zweiten Mal seit Kriegsbeginn hat die Wittener Ukraine-Helferin Olga Tape ihre Heimatstadt Cherson im Süden des Landes besucht. Sie brachte eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter und einen alten Schulfreund mit. Alle haben Schreckliches erlebt.
Nun sitzen sie in den Räumen der ukrainischen Musikschule in Witten: Nicht schön, aber sicher
Unvorstellbares liegt hinter ihnen. Raketenbeschuss, zerstörte Häuser, Tote und Verwundete, Stromausfall, Hunger und immer wieder Demütigungen durch die russischen Angreifer. Nun sitzen sie hier, in den kleinen Räumen der ukrainischen Musikschule an der Breite Straße. Die Zimmer sind nicht hübsch, aber das spielt keine Rolle. Hauptsache sicher, Hauptsache Frieden. Leise sagen Natalia (59) und ihre 37-jährige Tochter Lilia: „Danke, dass wir hier sein dürfen.“
Diese Worte sind an Olga Tape gerichtet, die seit Jahren in Heven lebt und vor wenigen Tagen „mit gebrochenem Herzen“ aus ihrem geliebten Cherson zurückgekehrt ist. „Ich habe meine Stadt nicht wiedererkannt“, sagt die Wahl-Wittenerin, die einst in Cherson zur Schule gegangen ist.
Juri nahm über Facebook Kontakt zu Olga Tape in Witten auf
Acht Jahre drückte sie die Schulbank mit Juri, der gerade mal 54 ist, aber älter aussieht und anfangs wenig spricht. Er hatte über Facebook Kontakt zu Olga Tape aufgenommen. Juri wirkt wie ein gebrochener Mann. Immer wieder bricht er in Tränen aus. Schuld daran ist Putins Angriffskrieg und jener verhängnisvolle 30. März. „Ich kannte ihn als sehr starken, klugen, intelligenten Mann“, sagt Tape.
An jenem vorletzten Tag im März war Juri mit dem Auto ins Zentrum gefahren, um Medikamente für seine Mutter zu holen. Russische Soldaten hielten ihn in der damals schon besetzten Stadt an und verlangten seine Papiere. Als sie sagten, sie seien seine Befreier, widersprach er. „Nein, Besatzer.“
Als die Soldaten von dem Antikenforscher verlangten, auf die Knie zu gehen und er sich weigerte, begannen sie, auf ihn einzuschlagen, auf die Beine, auf den Kopf. Juri erlitt in der Folge einen Schlaganfall und eine Thrombose, das linke Bein wurde schwarz. Die Ärzte versuchten noch, es in zwei Operationen zu retten, vergeblich. „Es fehlten auch die nötigen Medikamente“, übersetzt Olga Tape die Schilderung dieses Alptraums. Nun hofft Juri, in Deutschland eine Prothese zu bekommen.
Natalia war in der Ukraine eine Aktivistin
So verzweifelt er wirkt, er ist doch nicht hoffnungslos. Seine 20 Jahre jüngere Frau ist mit der Tochter in der Ukraine geblieben, um sich um die Schwiegermutter zu kümmern. Irgendwann will er zu ihnen zurückkehren. Auf eine Rückkehr hoffen auch Natalia und ihre Tochter. Sie sind im August aus Skadowsk geflohen. Die Hafenstadt am Schwarzen Meer liegt auf der anderen Seite des Flusses Dnepr und ist – anders als Cherson – noch nicht befreit. „Alles, was zwischen der Krim und dem Fluss liegt, ist von Russen besetzt“, sagt Olga Tape. „Felder, Dörfer, Städte.“
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Natalia ist so etwas wie eine ukrainische Aktivistin gewesen. Auch deshalb musste sie vor den Russen fliehen. Sie hat sich zum Beispiel um Angehörige von Soldaten gekümmert, die im Donbass kämpfen. Skadowsk war bis zum Krieg eine lebendige Stadt am Schwarzen Meer, mit vielen Touristen und Festivals im Sommer. Dorthin hatte Natalia die Mütter getöteter Soldaten 2021 eingeladen, damit sie sich erholen.
In Witten wieder zur Ruhe kommen
„Wir können jetzt hier in Witten wieder atmen und zur Ruhe kommen“, sagt ihre Tochter Lilia. „Und wieder schlafen.“ Sie hätten nicht mehr unter den Besatzern, „unter der russischen Fahne“ leben wollen. Viele Menschen seien aus Skadowsk geflüchtet, auch, damit ihre Kinder nicht in russische Schulen gehen müssen. „Wer den Russen querkam, wurde einfach mitgenommen“, erinnern sich die beiden.
Nun wollen sich Natalia und Lilia in der Wittener Ukraine-Hilfe von Olga Tape engagieren. Zusammen leben sie mit Juri, der sein Bein verloren hat, in der Gemeinschaftswohnung in Annen. Dort können Neuankömmlinge sofort ein Zimmer bekommen. Olga Tape denkt derweil wehmütig daran, wie zerstört ihre Heimatstadt Cherson ist. Auch das Haus, in dem sie früher gelebt hat, wurde von einer Rakete getroffen. Einst war die Stadt bei Odessa fast so groß wie Witten. Heute leben dort noch 30.000 Menschen. Tape: „Die Straßen sind leer und die Blicke der Menschen sind es auch. Die Stadt wirkt wie ausgestorben.“
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Sie geben trotzdem nicht auf und halten zusammen, was ja die große Stärke des ukrainischen Volkes ist. Zum Ende des Gesprächs kann sogar Juri ein wenig lächeln. „In Witten kann ich wieder träumen.“