Witten. Therapiehund Alice hilft Menschen, ihr Trauma zu überwinden. Wir durften sie und Hundeführerin Silke Beyer bei der Therapie in Witten begleiten.
Lenas Lieblingstier ist eine Hündin namens Alice. Weil sie schönes, weiches Fell hat, gerne kuschelt und immer fröhlich ist; weil sie sie zum Lachen bringt, auch an Tagen, an denen es ihr schlecht geht. Wie neulich, als sie sich im Schlamm gewälzt hat und aus dem Golden Retriever ein „Black Retriever“ wurde. Lena liebt Alice, weil sie sie ablenkt, wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft werden.
Und weil sie ihr hilft, ihr Trauma zu überwinden. Alice ist ein Therapiebegleithund und für die Arbeit mit Traumapatienten ausgebildet. Ihre Besitzerin ist die Wittener Ergotherapeutin Silke Beyer. Wir durften das Team bei einer Therapiestunde begleiten.
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Wittener Hundeführerin arbeitet mit Traumapatienten
„Das ist mein schönster Termin der Woche“, erzählt Lena beim Spaziergang im Wald, der für sie alles andere als selbstverständlich ist. Lena heißt eigentlich anders, sie möchte nicht erkannt werden und auch nicht gern über ihre Vergangenheit sprechen. Die 40-Jährige hat schon öfter Ergotherapie ausprobiert: Malen, Basteln, aber nie spezialisiert auf Traumata. Die Zeit mit Alice ist für sie etwas besonderes. „Wenn sie dabei ist, fühlt es sich ganz anders an, über schwere Erlebnisse zu sprechen.“ Als ob die Hündin mit den blonden Locken ihr einen Teil der Last abnehme, wenn sie neben ihr liegt und sich von ihr streicheln lässt.
„Ich arbeite viel mit Frauen, die Misshandlung erlebt haben“, erzählt Hundeführerin Silke Beyer. Manchen Patientinnen falle es schwer, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen, überhaupt die Stimme zu erheben. „Alice hilft ihnen, ihre Stimme wiederzufinden.“ Viele bauten aus Selbstschutz Mauern um sich herum auf; in Gegenwart des Hundes können sie sich ihren Gefühlen stellen.
Aber ein Hund braucht auch Führung, erklärt die Traumapädagogin ihren Ansatz. „Indem die Patienten Alice anleiten, lernen sie, dass sie etwas bewirken können; dass das, was sie sagen, gehört und respektiert wird.“ Die Patienten geben dem Hund Sicherheit und dadurch auch sich selbst. Im Grunde gehe es um Selbstfürsorge. „Das, was die Patienten hier in einem geschützten Raum spielerisch lernen, schaffen sie irgendwann auch im Alltag.“
Umgang mit Therapiehund stärkt die Selbstfürsorge
Lena übt erst seit ein paar Wochen mit Alice, die beiden lernen einander noch kennen. Bei der heutigen Übung soll die Hündin sich hinlegen und warten, während Lena auf dem Waldweg vorausgeht. Ein paar Meter weiter dreht sie sich um und ruft Alice zu sich. Bei den ersten Anläufen kommen die Kommandos zögerlich. „Waren Sie sich gerade sicher, was Sie von ihr wollten?“, hakt Silke Beyer nach. Kopfschütteln. Die Hundeführerin nickt: „Das hat Alice gemerkt, ein Hund kommuniziert ganz klar und sensibel.“ Die nächsten Male klappt’s besser. „Platz, bleib, komm!“ Als Alice bei Lena ankommt, bringt deren ungläubiges Lachen auch Silke Beyer zum Lächeln. „Es ist einfach schön zu sehen, wenn die Patienten über sich hinauswachsen.“
Während die Therapeutin ihre Patientin lobt, setzt Alice sich ungefragt neben Lena. Die streichelt ihr über den Kopf, ihr scheint nicht bewusst zu sein, was die Geste der Hündin bedeutet. „Schauen Sie mal, jetzt akzeptiert sie Sie als Führerin.“ Die Bochumerin strahlt. Ob Alice dafür ein Leckerli bekommt? Schon nach ein paar Wochen mit der Hündin hat sie eine Veränderung gemerkt, erzählt Lena.
Wenn sie früher mit ihren Betreuern einkaufen ging und die ihr, ohne es zu wissen, Lebensmittel in den Wagen legten, die sie gar nicht mochte, konnte sie das nicht sagen. „Jetzt sehe ich in solchen Situationen Alice vor mir und wie sie kommt, wenn ich sie rufe.“ Seitdem kann sie Nein sagen, noch nicht immer, aber immer öfter.
Alice ist für Arbeit mit Traumapatienten ausgebildet
Silke Beyer freut sich mit ihrer Patientin. „Ich liebe meine Arbeit, weil ich das Gefühl habe, damit etwas Positives zu bewirken“, erzählt die 41-Jährige, „und ich brauche einfach den Kontakt zu Menschen.“ Auch Tiere mochte sie schon immer, führte als Jugendliche die Hunde der Nachbarn spazieren. „Ich wusste, für einen eigenen Hund müsste ich einen Weg finden, wie ich ihn mit zur Arbeit nehmen kann.“
Wie gut Hunde- und Ergotherapie zusammenpassen, bewies ihr ihr erster Therapiehund Jerry, der sie und ihre Patienten zehn Jahre lang in der Praxis unterstützte und mittlerweile in Rente ist. Seine Ausbildung zum Therapiebegleithund erhielt Jerry beim Verein Rehahunde Deutschland, mit dem die Therapeutin seit 2011 kooperiert. Nachwuchstherapiehund Alice hat sie selbst ausgebildet.
Seit Sommer 2022 ist die zweijährige Hündin ausgelernt. „Alice ist nicht zu träge und offen für alles, aber auch nicht zu überdreht, sie lässt sich gerne anfassen, ist sehr verschmust“ – alles wichtige Eigenschaften für einen Therapiehund. Schon mit ihren zwei Jahren hat sie eine feine Wahrnehmung, kann zum Beispiel erkennen, wenn ein Patient bei der Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis aufgeregt reagiert. Wenn Alice dann hochspringt und sich mit den Vorderpfoten auf der Brust des Patienten abstützt, ist das kein Zeichen mangelnder Erziehung – im Gegenteil. Das kann sie sogar auf Handzeichen. „Aber oft entscheidet sie intuitiv, wie stark sie reagiert und die Patienten ins Hier und Jetzt zurückbringt.“
Wittenerin: „Tiergestützte Therapie ist für mich Herzensangelegenheit“
„Ich mache das aus Überzeugung“, sagt Silke Beyer. „Die Tiergestützte Therapie ist für mich eine Herzensangelegenheit.“ Und die Nachfrage ist groß. Lena ist über das Internet auf das Therapieangebot für Traumapatienten aufmerksam geworden. Alice ist mittlerweile ihr Hintergrundbild auf dem Handy. Ein „Verstärker“ für den Alltag, wie Silke Beyer es nennt. „Wenn ich das Bild anschaue, geht’s mir schon besser.“
Alice arbeitet ehrenamtlich
Therapiehund Alice arbeitet ehrenamtlich. Als Hundeführerin trägt Silke Beyer alle Kosten, die Tiergestützte Therapie wird bislang nicht von den Krankenkassen bezuschusst. „Ich würde sehr begrüßen, dass sich dies irgendwann ändert und mehr Patienten von dieser Unterstützung auf vier Pfoten profitieren könnten.“
Silke Beyer leitet drei Ergotherapie-Praxen in Witten, hat sich darüber hinaus zur systemischen Therapeutin und Traumafachpädagogin weitergebildet. Alle Informationen über sie und ihr Therapieangebot finden Interessierte unter www.ergotherapie-in-witten.de.
Lena ist sich sicher: Wenn jeder wüsste, wie gut das mit so einem Hund tut, würden noch viel mehr Leute diese Art der Therapie machen wollen. „Dann würde beim Arzt vielleicht irgendwann nicht mehr nur nach der Chipkarte gefragt, sondern auch: Möchten Sie ein Tier dabei haben?“