Witten. Die Wittener Tafel hat 2022 einen Ansturm wie nie zuvor erlebt. Gleichzeitig gab es eine Welle der Hilfsbereitschaft mit bewegenden Momenten.
Lange Schlangen bilden sich jeden Tag aufs Neue an der Herbeder Straße 22. Wie auch an diesem windigen Morgen kurz vor Jahresende. Mindestens 15, 20 Menschen warten geduldig auf Einlass. Einige stehen stumm auf der Treppe, andere unterhalten sich rege. Es sind viele Sprache zu hören. Noch nie war der Ansturm auf das kleine Lädchen im Erdgeschoss des Altbaus so groß wie heute.
„Ein solches Jahr haben wir noch nicht erlebt“, sagt Vereinsvorsitzender Ulrich Wolf. Niemals zuvor in den 26 Jahren, die es die Tafel in Witten gibt, hätten so viele Menschen das Angebot in Anspruch genommen, sagt der 70-Jährige.
Bürger spenden ihre Energiepauschale
20 Händler unterstützen Tafel
Die Zahl der Tafel-Kunden und Besucher ist in diesem Jahr auf rund 3000 gestiegen. Insgesamt kamen 300 Tonnen an Lebensmittelspenden zusammen, im Vorjahr waren es 250.
Rund 20 Einzelhändler in Witten stellen der Tafel Waren zur Verfügung. Weggefallen sind als Spender der Real-Markt und Edeka in Crengeldanz. In der Ausgabe der Tafel sind acht Mitarbeiter beschäftigt, die entweder geförderte Stellen innehaben oder nach Mindestlohn bezahlt werden. Zudem sind derzeit bis zu zehn ehrenamtliche Helfer im Einsatz.
Der Zuwachs ist vor allem durch ukrainische Flüchtlinge zustande gekommen. Dass die Tafel den Ansturm meistern konnte, „haben wir auch der heimischen Bevölkerung zu verdanken. Die Welle der Hilfsbereitschaft war und ist noch immer beeindruckend“, sagt Wolf. Denn die Lebensmittelspenden der heimischen Einzelhändler allein hätten wohl nicht mehr gereicht. Da war es gut, dass eine große Zahl an Privatleuten für die Tafel ihr Portmonee öffnete oder selbst Obst, Gemüse oder Konserven vorbeibrachte.
Ulrich Wolf und Tafel-Leiter Jürgen Golnik (56) erinnern sich an viele bewegende Momente in diesem schwierigen Jahr. „Mehrere Wittener haben ihre Energiepauschale von 300 Euro gespendet mit dem Argument, dass andere Menschen das Geld dringender brauchen“, sagen sie beeindruckt. Manche Bürger erkundigten sich auch telefonisch, welche Waren dringend gebraucht würden, um sie dann gleich zu besorgen. Darüber hinaus boten Kirchengemeinden ihre Unterstützung an.
Kinder verschenken Spielzeug an bedürftige Gleichaltrige
Viel Engagement zeigten die Wittener, ob klein oder groß, auch in der Adventszeit. „Wenige Wochen vor Weihnachten nahm eine Kita Kontakt zu uns auf“, erinnert sich Jürgen Golnik. „Die Kinder wollten gebrauchtes Spielzeug, Stofftiere, Puppen oder auch Playmobil an Gleichaltrige spenden, die nicht so viel haben wie sie selbst.“ Mädchen und Jungen einer anderen Kita bemalten mit Farbstiften Weihnachtstüten, die die Tafel an bedürftige Kinder verteilt.
Erstaunt waren Golnik und Wolf, wie viele Bürger die Tafel mit ausgedienten, aber noch intakten Hausgeräten bedachten. Was da nicht alles zusammenkam: Toaster, Wasserkocher, Mikrowelle, sogar eine Spülmaschine war dabei. „Alle solche Spenden waren natürlich sofort vergriffen“, sagt der Vorsitzende.
Stark gefragt ist auch gebrauchte Kleidung, die die Tafel inzwischen ebenfalls annimmt und die ebenso schnell Abnehmer findet. Das ist angesichts der vielen Tafel-Kunden auch kaum verwunderlich. Inzwischen sind es rund 650 Kundenkarten, die die Tafel für bedürftige Mitmenschen ausgestellt hat und darüber werden ca. 3000 Menschen versorgt, die natürlich mehrfach im Laufe des Jahres das Haus Tafellädchen aufsuchen. Die Menschen, die nicht im Laden einkaufen, können hier kostenlos frühstücken oder drei Mal pro Woche ein kostenloses Mittagessen mitnehmen.
Im Gegensatz zu anderen Tafeln erhalten die Besucher keine gepackten Tüten, sondern können selbst auswählen, was sie haben wollen. Ein Kilo Obst gibt es beispielsweise für 40 Cent, ein Brot für 30 Cent, oftmals auch ein zweites umsonst dazu. Die Einkaufsmengen werden nur dann rationiert, wenn nicht mehr genug für andere da sein sollte oder jemand etwa für einen Zwei-Personen-Haushalt viel zu viele Waren im Korb hat.
Berührende Briefe von ukrainischen Müttern
Die meisten sind inzwischen Stammkunden, „natürlich kommen auch neue hinzu“, sagt Golnik. Gerade Betroffene, die sich erstmals an die Tafel wenden, verspüren oftmals eine große Scham, obwohl sie das keineswegs müssten, sagt der Leiter. Er führe immer wieder Telefongespräche, in denen man den Menschen ihre Zurückhaltung anmerken könne. „Manche kommen dann auch nicht zu uns.“
Vor der Tür treffen wir Michael (Name geändert), der sich selbst über solche Bedenken, vielleicht auch Scham, hinweggesetzt hat. Der 44-Jährige war im sozialen Bereich tätig, bevor er seine Stelle verlor. „Ohne die Tafel käme ich nicht klar“, sagt er. Während er noch auf der Treppe draußen wartet, hat drinnen eine junge Ukrainerin mit ihrer Tochter (3) den Einkaufskorb bepackt. Sie ist froh, dass es diese Hilfe gibt. Hier holt sie einen großen Teil ihrer Lebensmitte, die gerade jetzt woanders für sie viel zu teuer sind. Landsleute von ihr suchen in einer Kleiderecke nach Jacken und Pullovern. Noch sei der Winter nicht vorbei, sagen sie.
Mehrere ukrainische Mütter haben zum Jahresende ihren Dank an die Tafel in Briefen zum Ausdruck gebracht. Und das mit sehr berührenden Worten“, so Wolf. In einem Schreiben heißt es: „Der Krieg hat uns gezwungen, alles zu verlassen, was wir hatten. Im Moment haben wir eine finanziell schwierige Situation. Die Tafel ist für uns eine große Hilfe.“