Witten. Viele Ukrainer, die in Witten leben, haben auf ihrer Flucht große Gefahren auf sich genommen. Hier erzählen sie ihre bewegende Geschichten.
Schutz und Sicherheit suchen die Menschen, die dem Krieg entkommen wollen. Doch ihre Flucht ist oftmals voller Gefahren, die Angst wird zum ständigen Begleiter. Drei Flüchtlinge in Witten erzählen.
Bewaffnete russische Soldaten setzten Flüchtlinge tagelang fest
Der Blick von Wladimir Yehorov wirkt noch immer versteinert. Die Bilder der vergangenen Woche lassen ihn nicht los. Er hat mit seinem 17-jährigen Sohn in Kiew gelebt, ganz nah am Flughafen. Als Putin die Ukraine überfällt, sind erst wenige Monate seit dem schweren Schicksalsschlag vergangen, den beide zu verkraften haben. Wladimirs Frau ist an Krebs gestorben. Jetzt müssen Vater und Sohn das Leben ohne sie bewältigen. Dass nun von einer auf die andere Stunde Krieg herrscht, können die beiden nicht fassen.
Vom ersten Tag an „schlugen ständig Raketen ein, Tag und Nacht“, sagt der Vater. Nach drei Wochen hielt er es nicht mehr aus. Überall herum waren Häuser zerstört. Seinen Sohn brauchte er nicht zu überreden. Auch der 41-Jährige wollte nur noch weg. Nachdem Wladimir mit seinem Bruder und dessen Frau gesprochen hatte, waren sie zu viert.
Die Hauptstadt lag schon einige Kilometer hinter ihnen, als „wir plötzlich an einen russischen Hinterhalt gerieten“, erzählt Wladimir von der abenteuerlichen Flucht mit dem Auto aus der Ukraine. Bewaffnete Soldaten „zwangen uns in ein Haus, das später von einer Rakete getroffen wurde. Wir blieben aber unverletzt.“
Drei Tage und zwei Nächte waren die vier eigenen Angaben zufolge in einem Zimmer eingesperrt. Sie mussten auf dem Boden schlafen, bekamen nur etwas Brot zu essen und ein bisschen Wasser zu trinken, sagt Wladimir Yehorov. Die Temperaturen sanken unter den Gefrierpunkt. Zwischenzeitlich habe er Geschrei aus anderen Zimmern gehört und sich Vorwürfe gemacht, warum er die anderen mitgenommen und in diese Gefahr gebracht habe.
Ukrainische Kräfte befreien ihre Landsleute
Am Abend des dritten Tages tauchten plötzlich ukrainische Soldaten auf, die das Gebiet wohl zurückerobert hatten. „Wir alle waren so angespannt, dass wir uns überhaupt nicht freuen konnten“, erinnert sich der Mann aus Kiew. Um wegzukommen, machten sie sich auf den Weg nach Iwano-Frankiwsk nahe der Grenze zu Polen.
Ukraine-Hilfe sucht Wohnungen für Flüchtlinge
Zu den Flüchtlingen, um sich die Olga Tape von der privaten Ukraine-Hilfe gehört ferner die Englischlehrerin Natalyia Chuprina (51), die mit ihren Eltern, 80 und 85 Jahre alt, nach Deutschland gekommen ist sowie Fesenko Zoia (72). Sie ist mit Tochter Anna und Enkel Daniel die Heimat verlassen.Olga Tape sucht weiterhin Wohnungen für Menschen aus der Ukraine. In den nächsten Tagen erwartet sie Flüchtlinge aus Mariupol. Ferner nimmt die Initiatorin auch weiterhin Kleidung, Medikamente und Hygieneartikel an. Kontakt: 0178/2462671
Als die Russen auch dort den Flughafen angriffen, hielt Wladimir nichts mehr in seinem Heimatland. Über mehrere Stationen in Polen und Deutschland kam er nach Witten. Sein Bruder hatte es sich dann doch anders überlegt. Er kehrte mit seiner Frau zurück und ging zur Armee. Per Whatsapp schickte er ein Selfie, das ihn mit Soldatenhelm zeigt. Wo er sich aufhält, „darf mein Bruder mir nicht sagen“.
Schwangere geriet in lebensbedrohliche Lage
Swetlana Sawinowa stammt aus der gleich zu Kriegsbeginn belagerten Stadt Cherson im Südosten der Ukraine. Als die Russen angreifen, ist sie im dritten Monat schwanger. Ihr Mann Eugen Zobenko arbeitet da seit kurzem auf einem Schiff, das in Istanbul vor Anker liegt. Vater und Bruder wollen nicht fliehen, sondern die Heimat verteidigen.
Die 28-Jährige nimmt schließlich all ihren Mut zusammen und entschließt sich zur Flucht. Ihr Vater bringt sie zu einem Konvoi, der aus 270 Autos besteht. Als die Flüchtenden nach einigen Kilometer an einem Checkpoint halten müssen, warnen russische Streitkräfte: Wenn sie weiterfahren, geraten sie in ein Kampfgebiet. Aber umkehren war nun auch keine Alternative mehr, sagt Swetlana.
„Ich habe nicht geglaubt, da lebend herauszukommen“, sagt die Fotografin. Dass auf der Motorhaube ihres Autos in Ukrainisch der Warnhinweis „Schwangere Frauen“ stand, habe ihr zwar Hoffnung gegeben, „die Angst blieb trotzdem“. Alle Flüchtlinge seien mit heiler Haut davongekommen, weiß die werdende Mutter und kommt sofort auf den Konvoi am Tag darauf zu sprechen. Dutzende starben, darunter der Vater und das Kind einer guten Freundin.
Über Moldawien und Rumänien hat sie es bis nach Deutschland geschafft. Ihr Mann ist inzwischen auch hier. Seine Firma habe ihn entlassen, sagt er. Doch für den Moment ist das nebensächlich. Das Paar ist zusammen und sie trägt neues Leben unter ihrem Herzen. Derweil haben beide schon einen Termin beim Frauenarzt. „Wir hoffen zu erfahren, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.“
Drei Tage auf dem Bahnhof von Kiew auf einen Zug gewartet
Ebenfalls aus Cherson stammt Lobov Vogel, die seit vielen Jahren in Kiew unterrichtete. „So viele Bomben zerstören ein Haus nach dem anderem“, schildert sie den Alltag in der Hauptstadt. Sechs Tage und Nächte hat die 41-Jährige im Keller ihres Mietshauses zugebracht. „Es herrscht klirrende Kälte. Das Essen haben wir auf Gaskochern zubereitet.“ Ihr wurde schnell klar, dass sie das Leben so nicht länger ertragen wollte. Da die Musiklehrerin kein Auto hat, entschied sie sich für die Flucht mit dem Zug. Als sie am Bahnhof ankam, „war alles voller Menschen“.
Zum Hindernis sollte der kleine Rucksack mit ein paar Getränken und den wenigen Habseligkeiten werden, den sie mitgenommen hatte. „Es wurden nämlich nur Leute in die Züge gelassen, die überhaupt kein Gepäck hatten.“
Drei Tage hat Lobov Vogel auf dem Bahnhof ausgeharrt, bis sie endlich einen Platz in einem Zug bekam. „Ein Abteil ist eigentlich für vier Leute vorgesehen ist, jetzt waren 18 darin.“ Bis nach Lemberg dauert die Fahrt eigentlich acht Stunden, jetzt kam sie nach 18 an. Der Zug hielt immer wieder an, „weil irgendwo in der Nähe Bomben fielen“. Während der Nacht mussten alle Lichter abgeschaltet und alle Fenster geschlossen sein. Dabei nicht in Panik zu verfallen, sei ihr schwergefallen.
Inzwischen ist sie zwar gut in Witten angekommen. Doch sie muss immer an ihre Liebsten denken, die noch in der Heimat geblieben sind. Ihr Sohn war am Tag vor Kriegsbeginn zu seinem Vater gefahren, der in Cherson wohnt. Angesichts der Nachrichten aus der Stadt hat Lobov Vogel große Angst um beide. „Die Russen gehen immer schärfer gegen die Bevölkerung vor. Sie verhaften und verschleppen Menschen.“