Witten. Forschungsobjekt Marienviertel: Die Hochschule für Gesundheit Bochum und die Caritas Witten ergründen, woran es dort hapert – Lösungen inklusive.
Die Menschen im Marienviertel stehen im Mittelpunkt eines Kooperationsprojektes zwischen der Hochschule für Gesundheit Bochum und der Caritas Witten. Dabei geht es nicht um bloße Forschung und wissenschaftliche Ergebnisse, sondern um ganz praktische Verbesserungen für mehr Wohlgefühl im Quartier. Das Besondere: Jene, die dort leben, können auf Augenhöhe mitwirken und erklären, woran es aktuell hapert.
Christel Böckmann etwa fühlt sich manchmal etwas einsam, seit ihr Mann verstorben ist: „Alleine spazieren gehen oder essen, das macht keinen Spaß“, sagt die 70-Jährige. Auch mehr Grün und weniger Stolperfallen auf den Bürgersteigen würde sie sich wünschen. Das hat sie auch schon in einem Interview kundgetan, das eine so genannte „Stadtteilforscherin“ mit ihr geführt hat. Es war eines von bislang insgesamt 27, von denen es noch weitere geben wird. Die ersten Ergebnisse haben die Beteiligten am Montagvormittag im Ardey-Hotel beraten und analysiert.
Etwa 8000 Menschen leben im Wittener Marienviertel
Mit dabei sind auch Rim Alabdallah und Rolf Kappel. Sie ist Stadtteilmutter im Marien-Viertel, er Gemeinwesenarbeiter. Beide sind für die Caritas im Einsatz und haben das Projekt nach Witten geholt. Die Hochschule für Gesundheit hat es in einem ähnlich strukturierten Bochumer Stadtteil bereits umgesetzt.
Etwa 8000 Menschen leben laut Kappel im Marienviertel zwischen Rathaus, Sonnenschein und Pferdebachstraße, das längst nicht mehr das „alte katholische Witten von früher“ repräsentiere. Im Gegenteil. Eine Statistik zeige: Hier gibt es die meisten alten Menschen, Alleinerziehenden und Studenten der Stadt. Auch viele Migranten leben im Viertel. Die Armut sei hoch. Kappel leistete Überzeugungsarbeit bei Prof. Dr. Christiane Falge, der wissenschaftlichen Leiterin des Projekts. Im Frühjahr haben sie losgelegt.
Wittener und Wittenerinnen interviewen Menschen aus dem Quartier
Weil Falge nicht über, sondern mit den Menschen forscht, wurden ganz normale Leute geschult, um in ihrer eigenen Lebenswelt die notwendigen Daten zu erheben. Gudrun Schlue (65), eigentlich Ehrenamtliche bei der Caritas, ist eine von zwölf Stadtteilforscherinnen. Sie wohnt seit über vier Jahren im Marienviertel, „weil hier die Mieten bezahlbar sind“ – die Häuser aber auch dementsprechend alt und renovierungsbedürftig.
Gudrun Schlue war also eine von denen, die Interviews mit anderen Bewohnern und Bewohnerinnen zwischen 18 und über 80 geführt haben, um herauszufinden: Was fehlt den Menschen im Viertel? „Letztlich machen alle Missstände krank“, sagt Schlue.
Die Kritik: Zu viel Bürokratie, schlechte Busverbindungen
Ganz oben auf der Liste: zu viel Bürokratie, etwa beim Ausfüllen von Anträgen. Zu wenige Möglichkeiten, sich in der Freizeit zu treffen. Schlechte Einkaufsmöglichkeiten und Busverbindungen. Und von migrantischer Seite, denn Interviews wurden auch auf Türkisch, Arabisch oder Englisch geführt: fehlende Vielfalt und Mehrsprachigkeit. „Rassismus ist ein großes Problem“, sagt Wissenschaftlerin Falge. „Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Stadt da was tun muss.“
Über die Stadtteilforscherinnen sei man an benachteiligte Menschen herangekommen, die sich sonst nie an solchen, etwa einstündigen Umfragen beteiligen würden, so Christiane Falge „Denen einen Fragebogen in den Briefkasten zu werfen, macht keinen Sinn.“ So aber hätte ihr Team schon „tiefgehende Einblicke gewonnen und unschätzbares Wissen angehäuft“.
Mit konkreten Angeboten ist bald zu rechnen
Bis sich tatsächlich erste Änderungen im Viertel bemerkbar machen, soll es auch gar nicht lange dauern. Falge rechnet damit, schon in drei bis fünf Monaten etwas Konkretes anbieten zu können. Von Bewohnern für Bewohnern. Denn auch das hat die Befragung ergeben: 40 Prozent der Menschen mache es glücklich, anderen zu helfen. Und so gebe es jetzt schon Listen, in die sich eingetragen hat, wer etwa ältere Menschen von der Bushaltestelle abholen würde.
Aufsuchende Angebote seien im Marienviertel ganz wichtig, so die Professorin weiter. Das bedeutet: Jemand klingelt an der Tür, fragt nach Problemen und kann im Idealfall bei der Lösung helfen. „Viele wissen beispielsweise nicht, wie und wo sie einen Pflegegrad beantragen müssen.“
Auch wenn offenbar viel zu tun ist – gibt es eigentlich auch jetzt schon Positives im Marienviertel? Stadtteilforscherin Gudrun Schlue überlegt. „Ich weiß nicht“, sagt sie, „aber trotz allem fühlen sich hier viele wohl“.