Witten. Vor 61 Jahren unterzeichneten Deutschland und die Türkei ein Anwerbeabkommen. Auch Familie Demirkilic zog nach Witten. Was ist heute ihre Heimat?
Saime Demirkilic kam als Tochter türkischer „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Heute, 60 Jahre später, zieht es die Wittenerin wieder zurück in die Heimat ihrer Eltern. Denn in Deutschland fehlen ihr die Wärme der Sonne und das Miteinander der Menschen.
Als Fünfjährige fuhr Saime Demirkilic mit ihrer Mutter, ihrer kleinen Schwester und ihrem großen Bruder nach Deutschland. Drei Tage dauerte die Zugfahrt. In den ersten Wochen, bis sie eine Wohnung fand, schlief die Familie auf Tischen in einem Zimmer am Wittener Hauptbahnhof. Nonnen versorgten sie mit Brot und Kleidung.
Vater brachte Koffer voller deutscher Süßigkeiten aus Witten in die Türkei
Ihr Vater hatte zu dem Zeitpunkt bereits ein Jahr lang im Wittener Stellwerk der Deutschen Bahn gearbeitet. Er war einer der ersten Türken, die 1961 als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen. Das Geld, das er verdiente, schickte er seiner Familie. „Wenn er uns besucht hat, hat er uns einen riesigen Koffer voller Süßigkeiten aus Deutschland mitgebracht. Lakritz-Rollen, Schokolade, von allem etwas zum Probieren“, erinnert sich Saime Demirkilic. Bis dahin habe sie nur türkisches Gebäck gekannt.
In Witten angekommen, begann auch ihre Mutter zu arbeiten, als Löterin bei Siemens. Während ihre Eltern von morgens bis abends bei der Arbeit waren, musste Saime sich als junges Mädchen um den Haushalt und um ihre Geschwister kümmern. „Die erste Zeit war schwer, aber danach ging es“, sagt sie heute, 60 Jahre später. Anfangs habe sie nicht gewusst, wo sie hingehört. Doch schnell sei Witten zu ihrer neuen Heimat geworden.
Saime Demirkilic möchte im Ruhestand zurück in die Türkei ziehen
Obwohl sie fast ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht hat, zieht es Saime Demirkilic nun im Ruhestand zurück in die Türkei. Bei ihren Eltern sei es genauso gewesen, erzählt sie. Auch sie seien als Rentner wieder in ihr Heimatland gezogen und hätten bis zu ihrem Tod abwechselnd in der Türkei und in Deutschland gelebt.
Für Saime Demirkilics Sohn Tolga kommt ein Leben in der Türkei nicht infrage. Er gehört zur dritten
Generation der ehemaligen „Gastarbeiter“-Familien, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Genau wie seine Mutter kam auch sein Vater bereits als Kind aus der Türkei nach Deutschland. „Ich habe kaum Bezugspunkte zur Türkei, ich habe da nicht einmal gelebt und auch nicht den Drang, überhaupt mal irgendwann dahin zu ziehen“, sagt der 24-Jährige.
Die Heimat von Sohn Tolga Demirkilic ist in Deutschland
Seine Heimat sei Deutschland, das Ruhrgebiet, Witten. Die meisten seiner Freunde und seine Partnerin seien Deutsche. Mit Türken, die in Deutschland leben, habe er außerhalb seiner Familie kaum Kontakt. Viele von ihnen seien ihm zu konservativ und zu stark auf ihre Nationalität fokussiert. „Ich habe keinen Nationalstolz, das habe ich nie gehabt. Aber bei vielen Türken ist das anders“, sagt der 24-Jährige. Das gelte für seine Generation besonders, für die Jüngeren, die in Deutschland geboren wurden.
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Er dagegen sei liberal aufgewachsen und habe gelernt, Traditionen kritisch zu hinterfragen. Seine Eltern hätten moderne Ansichten vertreten, auch in Bezug auf die Religion. Obwohl seine Familie muslimisch ist, sei er während der Schulzeit mit den anderen Kindern auf christliche Freizeiten gefahren. „Sie haben gesagt, geh mit in die Moschee, aber geh auch in die Kirche und guck dir das einfach mal an. Woran du glaubst, ist deine Sache. Bis heute glaube ich einfach an Gott, aber ohne Religion“, sagt der Wittener.
Arbeit ist für die Wittener Familie das Wichtigste
Dass seine Großeltern als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, habe die Familie geprägt, sagt Tolga Demirkilic: „Wir haben alle diese Arbeitskultur aufgenommen, immer fleißig zu sein und immer weiterzumachen.“ Selbst, als sein Großvater bei der Arbeit am Bahn-Stellwerk ein Bein verlor, habe er weitergearbeitet. „Arbeit ist das Wichtigste. Das hat sich bis heute bei mir eingebrannt“, so der 24-Jährige, der eine Ausbildung zum Produktdesigner für Anlagentechnik macht.
Auch wenn die Migrationsgeschichte seiner Eltern für ihn heute kein großes Thema mehr ist, ist Tolga Demirkilic froh über die kulturellen Eigenschaften, die seine Familie ihm mitgegeben hat: „Dieses Lachen, dieses Lebendige und Spontane. Und immer eine offene Tür zu haben.“
Saime Demirkilic fehlt in Deutschland das Miteinander
1086 „ortsansässige Ausländer“ aus der Türkei
Die Bundesrepublik schloss im Oktober 1961 ein Anwerbeabkommen mit der Türkei. Fast 900.000 Menschen kamen in den folgenden zwölf Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Sie wurden zur größten Gruppe von „Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern“. Etwa 500.000 von ihnen gingen später zurück in ihre Heimat.
Laut dem Statistischen Jahrbuch von 1971, das dem Stadtarchiv vorliegt, zählte Witten im Jahr 1970 1086 „ortsansässige Ausländer“ aus der Türkei.
Genau diese Dinge sind es, die seiner Mutter Saime Demirkilic in Deutschland manchmal fehlen. Sie sei nicht gerne allein, sondern lieber unter Menschen, erzählt die 65-Jährige. „In der Türkei ist immer jemand zu Besuch oder bringt Essen vorbei. Dieses Miteinander vermisse ich hier.“ Neben den wärmeren Temperaturen, die ihrer Arthrose helfen, ist dies ein Grund, warum sie bald in die Türkei ziehen möchte – zunächst für zwei Monate, um auszuprobieren, ob sie sich dort nach all der Zeit noch zuhause fühlt.
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