Bottrop. Als Teenager kommt Yasar Yardim aus der Türkei in den Revierbergbau. Der Anfang ist hart, aber dann schlägt er Wurzeln. Das ist seine Geschichte.

Mit heute 74 Jahren fühlt Yasar Yardim sich ohne Wenn und Aber als Bottroper. Die längste Zeit seines Lebens hat er in Deutschland verbracht, denn schon mit 16 Jahren kam Yardim als Bergarbeiterlehrling aus der Türkei auf die Zeche Lohberg. 60 Jahre nach Abschluss des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens erzählt er seine Geschichte – und wie er, der das zunächst selbst nicht gedacht hätte, im Ruhrgebiet heimisch geworden ist.

Als Teenager findet Yasar Yardim die Schule doof – und die Anwerbung verlockend

„Ich bin in einer Kreisstadt der Provinz Zonguldak am Schwarzen Meer geboren“, erzählt Yasar Yardim. Als er im April 1947 als Erstgeborener zur Welt kommt, ist sein Vater Bauarbeiter und seine Mutter Hausfrau. Nach der Mittelschule besucht er das Gymnasium. Doch wie so viele Teenager findet er die Schule doof, und so springt er genau wie ein paar Freunde sofort auf eine Bekanntmachung an, die sie am Schwarzen Brett des Arbeitsamtes in Zonguldak entdecken. Die Bekanntmachung nämlich, dass im deutschen Bergbau Mittelschüler für eine bergmännische Ausbildung gesucht werden. In ihrem jugendlichen Leichtsinn, so Yardim, finden sie den Mut, sich beim Arbeitsamt zu melden.

Yasar Yardim (74) heute in Bottrop.
Yasar Yardim (74) heute in Bottrop. © Oliver Mengedoht / www.oliver-mengedoht.de | Oliver Mengedoht

Zuständig ist damals der Amtsleiter höchstpersönlich. „Der Leiter hat uns die Sache so schmackhaft vorgetragen und gleichzeitig unsere Namen alle aufgeschrieben. Ich war der 13. Kandidat.“ Irgendwie schafft er es, die Eltern und vor allem den Vater zu überzeugen. Dann beginnen die Gesundheitschecks. „Die Honorare der Ärzte mussten wir selbst tragen in Zonguldak zunächst.“ Eine Gruppe von ausgewählten 20 Kandidaten wird per Bus nach Istanbul gefahren, dort finden weitere Untersuchungen in der deutschen Verbindungsstelle statt.

Mit gerade einmal 16 Jahren geht es für Yasar Yardim Richtung Deutschland

Rund zehn Tage dauert das Auswahlverfahren, erinnert sich Yardim. Viele müssen im Anschluss zurück in ihre Heimatstädte und Dörfer, aber er gehört zu denjenigen, für die es Richtung Deutschland geht. Es ist Juni 1963, und Yardim zählt gerade einmal 16 Lenze.

Er hat einen Ausriss aus einer Werkzeitschrift aufbewahrt, dort ist über einem Gruppenfoto unter anderem zu lesen: „Am 25. Juni trafen auf dem Flughafen Düsseldorf-Lohausen 20 türkische Jugendliche ein. Es handelt sich um türkische Mittelschüler, die im Alter zwischen 15 und 16 Jahren stehen. (...) Wir heißen die jungen Türken recht herzlich in Deutschland – es ist die erste türkische Jugendgruppe, die in der Bundesrepublik in Berufsausbildung tritt – und auf unserer Schachtanlage Lohberg willkommen und hoffen, daß aus ihnen besonders tüchtige Bergleute werden.“

Untergebracht werden die Jugendlichen in Dinslaken bei deutschen Familien im Pestalozzidorf, wo vor ihnen schon andere ins Ruhrgebiet gekommene Bergbaulehrlinge betreut wurden. „Jede Familie nahm drei Jugendliche auf“, so Yardim. Ein Segen für die Teenager fern der Heimat.

„Die ersten Deutschkenntnisse haben uns die Hauseltern beigebracht, mit Zeichensprache oder in der Küche. Das kam uns sehr zu Gute.“ Denn das alles war alles andere als einfach für die jungen „Gastarbeiter“: Die unbekannte Sprache, das fremde Land, die andere Religion und Kultur, das Arbeitsleben samt Disziplin, Pünktlichkeit, Gründlichkeit im Bergbau – und das fern der Familie.

Jeden Tag vor Schichtbeginn gab es zwei Stunden Deutschunterricht

Es galt eine dreimonatige Probezeit, jeden Tag gab’s vor Schichtbeginn zwei Stunden Deutschunterricht durch den Ausbildungssteiger, der keinen Dolmetscher erlaubte. „Das war gut“, sagt Yardim heute. In der Stadt fiel den jungen Bergbaulehrlingen aus der Türkei die Selbstbedienung in den Kaufhäusern auf, auch Anzüge von der Stange kannten sie nicht. Verhandeln auf Preisnachlass? Nicht in Deutschland!

Ankunft der jungen Gastarbeiter aus der Türkei in Düsseldorf.
Ankunft der jungen Gastarbeiter aus der Türkei in Düsseldorf. © Oliver Mengedoht / www.oliver-mengedoht.de | Oliver Mengedoht

Nach der Berufsausbildung hätten viele aus seiner Gruppe noch weiterführende Schulen besucht, seien teils bis zum Steiger oder Bergingenieur aufgestiegen. Er selbst wechselte 1969 auf Aufforderung seines Vorgesetzten als Dolmetscher und Sozialarbeiter über Tage und betreute die neuen Bergleute, überwiegend aus der Türkei.

Und wie lief es zwischenmenschlich? Freunde habe er im Betrieb gefunden. „Wenn ich jetzt zurückdenke an die Ausbildungsjahre: Das lief damals wirklich harmonisch. Wir hatten kaum Auseinandersetzungen im Betrieb.“ Es sei eine gute Kameradschaft, ein gutes Miteinander gewesen. „Als Bergmann zu arbeiten, das erfordert blindes Vertrauen zueinander.“

Allem Heimweh zum Trotz: Den Ausbildungsvertrag galt es zu erfüllen

Und Heimweh? Das hatte Yasar Yardim natürlich auch, vor allem am Anfang. „Im zweiten oder dritten Jahr bin ich beim Ausbildungsleiter vorstellig geworden und habe ihm gesagt: Ich möchte in der Türkei das Gymnasium weitermachen.“ Der habe geantwortet: „Wir haben für dich viel Geld ausgegeben. Das musst du dir erst erarbeiten. Ich kann dich aus deinem Ausbildungsvertrag nicht entlassen.“

Hochzeit im Jahr 1968.
Hochzeit im Jahr 1968. © Oliver Mengedoht / www.oliver-mengedoht.de | Oliver Mengedoht

Auch das heimische Gymnasium habe ihm mit Hinweis auf mehr als 30 Tage unentschuldigten Fehlens gewissermaßen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Immerhin, die Urlaube verbrachte Yardim immer in der Heimat; dort heiratete er auch 1968 seine heutige Frau, die dann 1971 nach Deutschland kam. „Wir hatten im Pestalozzidorf unsere eigene Wohnung. Ich war dorthin verlegt worden, um dort die Jugendlichen zu betreuen. Das habe ich sehr gerne gemacht.“ Und zwar bis zur Stilllegung des Dorfes 1974. „Anfang 1975 kam ich nach Bottrop und übernahm die Betreuung der Bergleute hier auf Morianstraße und Schillerstraße.“

60 Jahre Anwerbeabkommen

Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten Deutschland und die Türkei ein Anwerbeabkommen, um türkische Arbeitskräfte ins Land zu holen. Genau 60 Jahre ist es also her, dass die ersten sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei ihre Heimat verließen, um im für sie so fremden Deutschland am Wirtschaftsaufschwung mitzuwirken.

Dass diese „Gäste“ auf Dauer bleiben würden, war anfangs nicht vorgesehen – und auch Yasar Yardim hatte als junger Mann andere Pläne. Inzwischen lebt er seit 58 Jahren in Deutschland. Auf Einladung der Integrationsagentur, die den Kontakt vermittelt hat, berichtete Yasar Yardim auch im Rahmen der Interkulturellen Woche über sein Leben.

Schon eineinhalb Jahre später wechselte er in den Bereich der Wohnungswirtschaft. „So dass ich später nicht nur Dolmetscher in der Wohnungswirtschaft war, sondern nach der Einarbeitung wurde ich zuständiger Wohnungsverwalter für den Bergbau in Bottrop.“ In den letzten 20 Berufsjahren sei er für fast 10.000 Bergarbeiterwohnungen zuständig gewesen. Gesundheitliche Probleme machten Yardim ab 1998 zum Frührentner.

„Wir hatten immer den inneren Wunsch, irgendwann zurückzugehen“

Als Gastarbeiter gekommen – und geblieben. Wie Yasar Yardim geht es vielen seiner Landsleute aus der ersten Generation. „Wir hatten immer den inneren Wunsch, irgendwann zurückzugehen“, sagt der Bottroper. Deswegen habe man in der Türkei investiert, zum Beispiel in Sommerhäuschen. Aber die wirtschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland hätten in vielen Fällen von einer Rückkehr abgehalten.

Denn gleichzeitig hatte man sich in Deutschland ja etwas aufgebaut: „Hier ist man beruflich weitergekommen, man hatte inzwischen einen sicheren Arbeitsplatz.“ Hatte das neue Leben angenommen, neue Freunde gefunden, neue Nachbarn. Kinder wurden in Deutschland geboren – „und die wollten hier einfach nicht mehr weg“.

In Deutschland etwas aufgebaut

Er selbst habe ein altes Bergmannshaus als Eigentum erworben, „da fühlen wir uns auch wohl“. Yasar Yardim engagierte sich zudem in der Gewerkschaft, im Bottroper Integrationsrat, auch für die islamischen Gemeinden. Die erste Generation habe Integrationsprobleme gehabt, aufgrund geringer Bildung, Sprachschwierigkeiten. „Die Kinder, die hier geboren sind, sind in allen Berufsgruppen vertreten“, so Yardim. Bis hin zu Lehrkräften an der Universität.

Yardim urteilt: „Wir sind schon weiter gekommen und hier in der Gesellschaft richtig integriert, auch wenn wir einen anderen Namen als Meier-Müller tragen.“ Da habe er, gerade in Bottrop, seinen Beitrag zu geleistet.