Essen. Lauterbach hat angeblich alles „unter Kontrolle“, während sich unsere Kinder nach und nach infizieren. Die FDP will sogar baldmöglichst lockern.
Keine Luftfilter, fast nirgends. Keine Testpflicht in den Kitas. Keine individuellen PCR-Tests mehr in den Schulen; aber auch keine Ausnahmen von der Schulpflicht. Und: Keine klaren Aussagen zum Impfen von Kindern zwischen fünf und zwölf Jahren. Immer mehr Kinder infizieren sich mit der Omikron-Variante und schleppen das Virus in ihre Familien, stecken Eltern und Großeltern an. Es ist eine lupenreine Durchseuchung, die vielen Müttern und Vätern Angst macht. Und was macht die Politik? Sie zuckt mit den Schultern.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, dem so viele Menschen vertrauen, auf den alle die setzen, die sich eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Politik wünschen, weitgehend frei von Taktik, nur am Wohl der Bevölkerung ausgerichtet – ausgerechnet dieser „Minister der Herzen“ enttäuscht derzeit auf der ganzen Linie. Man habe die Lage „unter Kontrolle“, sagt er ernsthaft. Er bezieht sich dabei auf die aktuelle Lage in den Krankenhäusern und auf die vergleichsweise noch niedrigen Inzidenzen bei den Älteren.
Hat er die Kinder und Jugendlichen etwa vergessen? Oder spielen sie keine Rolle? Unter Kontrolle? Was heißt das bitte schön?
Jetzt geht es nicht mehr um abstrakte Statistiken
War und ist es nicht derselbe Karl Lauterbach, der eine Durchseuchung von Kitas und Schulen für falsch, für ethisch nicht vertretbar hält? Aber genau das passiert doch gerade. Eltern und Mütter erleben es jeden Tag, dass befreundete Familien oder sie selbst in Quarantäne müssen. Für viele, für die Corona relativ weit weg war, ist das eine neue Erfahrung. Jetzt geht es nicht mehr um abstrakte Statistiken, nicht mehr um Einschläge, die zwar immer näherkommen, aber das eigene unmittelbare Umfeld nicht betreffen.
Jetzt geht es ans Eingemachte. Wer Kinder hat, kann dem Virus praktisch nicht mehr entkommen, sofern man sich nicht in die totale Isolierung begibt, was de facto nicht geht. Die eigene Familie infiziert sich jetzt oder nächste oder übernächste Woche mit einem bis dato noch wenig erforschten Virus, das auch Durchgeimpfte befällt und zu angeblich milden Verläufen führt, die sich vielfach gar nicht so mild anfühlen. Und was ist mit den Langzeitfolgen, auch für die Kinder? Überall nur Achselzucken. Ist das der Politik egal?
Empörung über Ratten-Kinder-Vergleich
„Was Ratten in der Zeit der Pest waren, sind Kinder zurzeit für Covid-19: Wirtstiere. Ständig infizieren sie sich mit irgendwelchen Viren. Und was machen die unverantwortlichen kleinen Halbmenschen dagegen? Nix!“ Groß war die Aufregung, nachdem der Satiriker und Provokateur Jan Böhmermann diese Sätze in seiner jüngsten Sendung „ZDF Magazin Royal“ zum Besten gegeben hatte. Wer immer ihn missverstehen wollte, nahm die Einladung dankend an – wie etwa der FDP-Bundestagsabgeordnete Daniel Föst, nach eigener Beschreibung ein „Familienmensch“. Das Böhmermann-Zitat sei „abartig geschmackslos“. Wie kann man nur Kinder mit Ratten vergleichen?!
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Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
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Natürlich ist die Frage falsch gestellt; sie ist ein Ablenkungsmanöver. Nicht die satirische Zuspitzung ist der Skandal, sondern der Missstand, den Böhmermann hier auf die ihm eigene brutalstmögliche Weise offenlegt. Was wirklich „abartig geschmacklos“ ist, lieber Herr Familienmensch Föst, ist die fortgesetzte verantwortungslose Profilierungspolitik Ihrer Partei. Keiner weiß, wann der Scheitelpunkt dieser Omikron-Welle erreicht ist. Keiner weiß, ob sich in einigen Wochen nicht doch noch die Krankenhäuser füllen, mit den immer noch vielen ungeimpften älteren Menschen, aber auch mit vorerkrankten Kindern, für die eine Impfung nicht in Frage oder – dank der verschlafenen Ständigen Impfkommission – schlicht zu spät kam.
Joachim Stamp will endlich seinen Freedom Day
Und was macht Joachim Stamp, der FDP-Vize-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und – Achtung! – NRW-Kinder- und Familienminister? Er beginnt jetzt, während sich immer mehr Familien in einer krisenhaften Ausnahmesituation sehen und von der Politik im Stich gelassen fühlen, eine Öffnungsdiskussion. Was denn auch sonst? Welchen Wert hat die Gesundheit unserer Kinder schon, wenn wir beim Einkaufen und beim Essen und Trinken in der Gastronomie nicht frei sind? (Ironie aus.) Am liebsten würde Stamp wieder mal ein Datum nennen für den von den Liberalen heißgeliebten „Freedom Day“. Aber der Begriff ist, weil er schon damals das Etikett für einen schweren Irrtum war, verbrannt.
Ansonsten bleibt sich die FDP treu. Sie ist es ja auch, die das komplette Kommunikationsdesaster rund um eine notwendige Impfpflicht zu verantworten hat – mit der Folge, dass diese Impfpflicht, obwohl es dafür noch immer gute Gründe und eine breite Mehrheit in der Bevölkerung gibt, womöglich nicht oder nicht rechtzeitig kommen wird. Zugegeben: Es ist ein Stück Spekulation. Aber gäbe es die FDP in der Regierungskoalition nicht, dann hätte Lauterbach sich und seiner vorministeriellen Politik treu bleiben und für die Bundesregierung einen hieb- und stichfesten Gesetzentwurf vorlegen können.
CDU und CSU vergessen staatspolitische Verantwortung
Ganz nebenbei hätte er damit CDU und CSU auch die Möglichkeit genommen, die Regierung nun für ihre merkwürdige Enthaltung anzugreifen, statt in der Opposition staatspolitische Verantwortung zu übernehmen. Denn genau das tut die Unionsfraktion im Bundestag derzeit nicht, obwohl die eigenen Ministerpräsidenten in den Ländern eine Impfpflicht wollen. Denn diese sind pragmatisch genug zu wissen, dass nur eine Impfpflicht garantiert, dass wir im kommenden Herbst und Winter nicht die sechste Welle erleben – schlimmstenfalls eine Delta-Welle, wie manche Forscher befürchten.
Und so beobachten wir „Familienmenschen“ einigermaßen fassungslos die nach oben hin explodierende Nicht-mehr-alle-Tassen-im-Schrank-Inzidenz der Politik aller Parteien. Danke für gar nichts!
Der Bundeskanzler bleibt unsichtbar
Das ist übrigens auch an Ihre Adresse gerichtet, lieber Herr Bundeskanzler Schulte, Schulz – wie heißen Sie gleich? Sie sind ins Amt gekommen, weil sich die Menschen einen Regierungschef gewünscht haben, der die Dinge ruhig, aber entschlossen in die Hand nimmt. Dass sich ein Virus anschickt, einmal in kürzester Zeit durch den größten Teil der gesamten Bevölkerung zu rauschen, ist völlig beispiellos. Dass sich ein Regierungschef in einer solchen Situation derart unsichtbar macht, allerdings auch. Das hätte nicht einmal Ihre Vorgängerin geschafft, und die war schon ganz gut darin.
Auf bald.