Witten. Verödet Wittens Innenstadt? Von wegen, sagt eine Stadtentwicklungsexpertin. Die City müsse künftig mehr bieten als Shoppen. Wie das gehen kann.

Verabschieden Sie sich vom Bild einer vollen Fußgängerzone, wie es sie in den 80er Jahren gab. Senken Sie die Mieten, bieten Sie mehr als nur Shoppen: Für die Wittener Innenstadt hat Jennifer Duggen viele Ideen. Die Handelsexpertin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittleres Ruhrgebiet ist überzeugt: Witten hat gute Chancen.

Frau Duggen, welcher Art von Innenstadt gehört die Zukunft?

Einer multifunktionalen Innenstadt, die nicht mehr allein auf Handel setzt. Gemeint ist eine Mischung aus Gastronomie und Handel, kleinen Manufakturen, Wohnen, Kultur, Dienstleistungen. So wie die klassische europäische Stadt über Jahrhunderte aufgebaut war.

Kein schöner Anblick: Aktuelle Leerstände auf der Bahnhofstraße in Witten..
Kein schöner Anblick: Aktuelle Leerstände auf der Bahnhofstraße in Witten.. © FUNKE Foto Services | Gero Helm

Scheinbar vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo in Deutschland das Sterben der Innenstädte als Folge der Corona-Pandemie bejammert wird. Sehen Sie das auch so?

Jein. Innenstädte unterlagen schon immer Veränderungen, die Corona-Krise hat hier in Teilen wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Zumal die von der Krise besonders betroffenen Unternehmen, etwa Handel, Gastronomie, Reisebüros wesentlich für eine funktionierende Innenstadt sind.

Aber vielleicht hat eine Mittelstadt wie Witten ja auch von Corona profitiert? Sehen Sie, über Jahre wurden Mittelstädte als Wohnorte abqualifiziert, während die Kundschaft nach Dortmund oder Bochum abwanderte. Durch das Home-Office aber wird der eigene Wohnort attraktiver. Gastronomie und Dienstleistungen werden im direkten Wohnumfeld zukünftig mehr nachgefragt. Je durchmischter eine Fußgängerzone ist, etwa mit inhabergeführtem Fachhandel, umso besser. Und das hat Witten durchaus. Auch das geringere Preislevel könnte Mittelstädte für neue Player interessanter machen.

Was ist der große Pluspunkt der Wittener Innenstadt?

Die Kompaktheit und die gute Erreichbarkeit. Es gibt den Bahnhof und es ist vor Ort alles zu bekommen. Die Aufenthaltsqualität rund um den Berliner Platz ist recht heimelig, ebenso das Wiesenviertel. Das alles wäre schon mit kleinen Mitteln ausbaufähig. Der unbelebte Rathausplatz hätte schon gewonnen, indem man dort beispielsweise mobile Spielgeräte aufstellt.

Trotzdem wollen viele der Innenstadt mit ihrem leerstehenden Kaufhof keine Zukunft mehr geben.

Wir sollten mit einem zeitgemäßen Blick auf unsere Shoppingmeile gucken. Und erkennen: Der Handel wird nicht länger die allein prägende Branche der Innenstadt sein. Vielmehr wird diese zu einem neuen Ort der Freizeitgestaltung. Viele Händler beschwören gern das Bild aus den 80er Jahren, als die Innenstadt weitgehend aus Handel bestand, die Straße voll mit Menschen waren und es den Onlinehandel nicht gab. Ein Zurück zu diesem Bild gibt’s nicht mehr.

Was braucht es dann?

Nun, es wird kein weißer Ritter mit dem großen Wurf in der Tasche kommen, der sagt: Ich entwickele diese Immobilie. Man muss den Mut haben, einen Neustart zu wagen, und möglichst viele Akteure an einen Tisch bringen.

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Was würden Sie konkret ändern?

Solche komplexen Veränderungsprozesse müssen professionell gemanagt werden. Ebenso wie es eine Managerin für die Stadtgalerie gibt, braucht es zwingend eine Projektleitung, die sich um die Innenstadt kümmert. Damit meine ich nicht nur die Bahnhofstraße, sondern auch Ruhrstraße, Wiesenviertel und Johannisviertel. Es gibt in Witten ein gutes Engagement, etwa mit der Standortgemeinschaft oder den Leuten vom Wiesenviertel. Aber es fehlt eine Bündelung. Von daher ist das Innenstadtbüro mitten@witten ein richtiger Schritt.

Jennifer Duggen arbeitet seit zehn Jahren für die Industrie- und Handelskammer. Die Expertin für Stadtentwicklung hat auch Witten im Blick.
Jennifer Duggen arbeitet seit zehn Jahren für die Industrie- und Handelskammer. Die Expertin für Stadtentwicklung hat auch Witten im Blick. © IHK Bochum

Noch so einen Tipp, bitte.

Wir müssen noch mehr als bisher mit den Immobilien-Eigentümern reden. Wobei in Sachen Mietpreisgestaltung bei der Lernkurve einiger Eigentümer durchaus Luft nach oben ist. Reden muss man auch über die perspektivische Entwicklung der Innenstadt generell - denn ohne die Eigentümer geht es nicht!

Wie bewerten Sie die Schließung unseres Einkaufsmagneten, des Kaufhofs?

Das klassische Warenhaus hat schon länger ausgedient. Auch Shopping Malls wie die Stadtgalerie, die ja nur skalierte Warenhäuser sind, tun sich zunehmend schwer. In der Regel sind irgendwann die Obergeschosse nicht mehr belegt, Läden finden sich nur noch im Erdgeschoss. Manche Malls werden dann mit anderen Nutzungen belegt, wie einer Stadtbücherei oder Teilen der Verwaltung im Obergeschoss, um mehr Frequenz, also Besucherzahlen zu bringen. In Sachen Kaufhof bin ich kritisch. Viele der Kaufhaus-Immobilien wurden auch kaputtgespart, es gibt einen großen Sanierungsstau.

Es werden immer wieder andere Nutzungen gefordert, was kann das sein?

Ein gutes Beispiel ist die geplante Kita in der ehemaligen Krüger-Buchhandlung. Allein durch die Abholzeiten bringt das Frequenz in der Stadt. Da könnte sich schnell eine nette, kinderfreundliche Gastronomie ansiedeln oder Geschäfte, die Schulranzen oder Kindermode anbieten. Schon erhöht man die Verweildauer.

Citymanagement hat Arbeit aufgenommen

Seit Mitte März kümmert sich ein „Quartiers- und Citymanagement“ an der Ruhrstraße 32 (im ehemaligen Schuhgeschäft Fortschritt) um die Zukunft der Innenstadt. Seit dieser Woche sind die fünf Mitarbeiter für Anregungen von Bürgern vor Ort.

Für 300.000 Euro aus einem Förderprogramm und befristet auf zwei Jahre soll das Quintett als Bindeglied zwischen Bürgern und Stadtverwaltung dienen. Grundlage ist das „Integrierte Stadtentwicklungskonzept“ (ISEK), das Erneuerungsmaßnahmen für rund 26 Millionen vorsieht.

Noch während des Lockdown wurden einige kleinere Projekte angeschoben: etwa die
Marktschwärmerei im Wiesenviertel, die Ausstellung „Galerie der Produkte“ in den Kaufhof-Schaufenstern oder das unerwartet beliebte „Maskentaschen“-Nähprojekt. Über den Quartiersfond stehen nach den Ferien Fördermittel für bürgerschaftlich getragene Projekte zur Verfügung. Parallel erarbeitet das städtische Planungsamt ein Profilierungskonzept für die Innenstadt.

Stichwort Mobilität: Sollte die Innenstadt autofreier werden? Oder im Gegenzug mehr Auto wagen und auf Parkgebühren verzichten?

Tja, mit den Parkgebühren ist das so eine Sache. Viele Händler fordern die Abschaffung der Parkgebühren, im Ruhrpark gibt es sie doch auch nicht. Dann aber stellen sich in Witten die Dauerparker auf die Flächen. Machen Sie die ersten beiden Stunden kostenfrei, sind die Leute nach exakt zwei Stunden wieder weg. Selbst geringe Parkgebühren werden nicht wohlwollend aufgenommen. Trotz der Gebührendiskussion: Ich glaube, das Auto bleibt wichtig, die anderen Verkehrsträger gewinnen zunehmend an Bedeutung, die Stadtlogistik wird immer komplexer. Wir müssen Mobilität für alle ermöglichen - auch das ist Teil einer attraktiven Innenstadt.

Ich mag übrigens die Straßenbahn in der Fußgängerzone. Sie passt in die Verkehrswende und ist einfach ein hübsches Bild. Obwohl sie natürlich nicht ganz den internationalen Flair bringt, wie die Straßenbahn in Lissabon oder San Francisco.