Oberhausen. Wegen der Praxisgebühr, so die Caritas. Nicht der einzige Grund dafür, dass Armut krank machen kann. Neue NRZ-Serie zum Thema.

Wer arm ist, muss früher sterben. Hört sich hart an. Ist auch so: Die mittlere Lebenserwartung liegt bei Frauen aus armen Verhältnissen rund acht Jahre unter der von Frauen aus guten Einkommensverhältnissen. Bei Männern beträgt die Differenz sogar elf Jahre. Das hat das Robert-Koch-Institut in seiner Gesundheitsberichterstattung „Armut und Gesundheit“ festgehalten.

Um über die Zusammenhänge zwischen Armut und Krankheit aufzuklären, Schwachstellen im Gesundheitswesen aufzudecken und die nötige zwischenmenschliche Solidarität zu stärken, hat die Caritas diesem Thema ihre Jahreskampagne 2012 gewidmet: „Armut macht krank“, heißt sie – und im Untertitel: „Jeder verdient Gesundheit“. Die NRZ wird in einer neuen Serie einzelne Aspekte näher ausleuchten. Zum Auftakt sprach Martina Nattermann mit Caritasdirektor Werner Groß-Mühlenbruch.

Was sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Problemfelder?

Werner Groß-Mühlenbruch: Da sind zum Beispiel die Praxisgebühren und die Kosten für nicht verschreibungspflichtige Medikamente. Die wirtschaftliche Situation der Krankenkassen ist exzellent. Warum wird das Geld gehortet, statt es zielgerichtet einzusetzen? Vor allem Menschen mit gesetzlich geregeltem Taschengeld, etwa jene, die aufgrund einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Heimen leben, aber auch Langzeitarbeitslose, Menschen mit geringem Einkommen oder Senioren mit sehr kleiner Rente macht diese Gebühr oft das Leben schwerer.

Wie macht sich das in der Praxis bemerkbar?

Groß-Mühlenbruch: Indem etwa notwendige Arztbesuche aufgeschoben werden, bis es nicht mehr geht – wodurch sich nicht selten das Krankheitsbild verschlimmert. Wir fordern deshalb die Abschaffung der Praxisgebühr. Auch die unnötig bürokratisch geregelte Befreiung bei Zuzahlungen für Medikamente, physikalischer Therapie, Heil- und Hilfsmitteln trägt nicht gerade dazu bei, dass sinnvolle Medikationen umgesetzt werden.

Woran machen Sie bei der Caritas eigentlich den Armutsbegriff fest?

Groß-Mühlenbruch: Das ist nicht allein eine Einkommensfrage. Armut bedeutet für uns nicht nur materielle Armut. Der Begriff hat mehrere Dimensionen. Bildungsarmut etwa: Wer nie gelernt hat, wie man sich gesund ernährt, wird’s schwer haben, das hinzukriegen. Auch die psychosoziale Dimension muss man im Blick behalten. Wir haben es in unseren Einrichtungen zum Beispiel vielfach mit Menschen zu tun, die psychisch krank sind – oder geistig nicht so beweglich, dass sie selbst klarkommen, wenn es etwa gilt, Anträge für Kassenleistungen zu stellen. Auch für sie ist der Zugang zu Gesundheitsleistungen, die eigentlich allen gleichermaßen zustehen sollten, unter Umständen sehr eingeschränkt.

Gibt es, neben der Praxisgebühr, aktuell ein weiteres Thema, das Sie umtreibt?

Groß-Mühlenbruch: Wir stellen bereits seit einiger Zeit fest, dass im Bereich der Mutter-Kind-Kuren die Ablehnung der Anträge durch die Kassen eher wieder zunehmen – teilweise mit abstrusen Begründungen. Da heißt es dann etwa, es seien nicht alle ambulanten Maßnahmen ausgeschöpft. Wer sowas schreibt, hat offenbar das Konzept von Mutter-Kind-Kuren nicht verstanden: Das kann man ambulant gar nicht hinkriegen. Da braucht es einen Luft- und Tapetenwechsel. So etwas ist ärgerlich. Es bedeutet zum einen mehr Arbeit für unsere Berater im Widerspruchsverfahren – was aber noch viel schlimmer ist: Es bedeutet zum anderen längere Wartezeiten für die Mütter, die ohnehin bereits am Ende ihrer Kräfte angelangt sind.