Gelsenkirchen-Horst. Andrea Ahmann hat Gelsenkirchens einzige Selbsthilfegruppe für Angehörige betroffener Kinder gegründet. Sie setzt dort an, wo Ärzte nicht helfen.
Es begann mit panischer Angst vor Feuer: Seine Eltern sollten weder Kerzen anzünden noch kochen oder backen. In der Grundschule verkroch sich Tim (Name geändert) schon mal unter dem Tisch, träumte sich weg oder schlug plötzlich um sich. Dass er Autist ist, erfuhren die Eltern nach einer Odyssee aber erst vier Jahre später – und fühlten sich mit der Diagnose ziemlich alleingelassen. Um anderen Familien in Gelsenkirchen genau das zu ersparen, gründete Andrea Ahmann kurzerhand eine Selbsthilfegruppe und macht seither Betroffenen Mut: „Autismus ist keine Krankheit, sondern nur eine andere Form des Seins.“
Zugegeben: Diese Ruhe und Gelassenheit, die die 48-Jährige ausstrahlt, sie sind hart erarbeitet. Tim ist mittlerweile 15, geht auf eine Gesamtschule und hat ebenso wie die Familie gelernt, mit der angeborenen, neurologisch bedingten Entwicklungsstörung umzugehen. „Den allergrößten Teil an Informationen, die uns im Alltag weiterhelfen, haben wir allerdings in einer Selbsthilfegruppe in Erfahrung gebracht“, erzählt die zweifache Mutter aus Horst, die als Verwaltungsangestellte in der Pfarrei St. Augustinus arbeitet.
Gelsenkirchenerin weiß, was die Diagnose Autismus mit Familien macht
Es war die Mitgliedschaft im 2016 gegründeten Oberhausener Verein „Autismus – einfach anders“, wo sie sich die entscheidenden Tipps holte, die sie nun in der von ihr initiierten Gelsenkirchener Außenstelle weitergibt. „Hauptanliegen ist es, Erfahrungen mit anderen Eltern und Angehörigen von autistischen Kindern auszutauschen, an Fachleute und Beratungsstellen zu vermitteln und zu ermutigen. Das kommt in Gesprächen mit Ärzten und Kinderpsychiatern oft zu kurz.“
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Denn Andrea Ahmann weiß nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn Eltern angesichts der Diagnose (unheilbarer) Autismus der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ein diffuses Laienwissen vermischt sich mit Sorge um die Zukunft des Kindes: Was wird aus ihm – als Person, in der Schule, im Job? Wie selbstständig kann es sein Leben führen? Inwiefern wird es für immer auf Hilfe angewiesen sein?
Im Fokus der Gelsenkirchener Selbsthilfegruppe stehen Tipps für den Alltag
Kurz: Fragen über Fragen zum praktischen Alltag fluten Mütter und Väter, die Ärzte nach der Erfahrung der Ahmanns nur selten beantworten (können). „Da ist es so hilfreich, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen“, weiß die 48-Jährige, die hofft, mit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit weitere Familien auf die Gruppe aufmerksam zu machen. Bislang treffen sich einmal monatlich vier bis zehn Eltern. [Zum Thema: Mutig! So bezwingt diese Frau ihre Sozialphobie]
Dass es „den“ Autismus nicht gibt, sondern vielmehr ein ganzes Spektrum autistischer Störungen, ist mit das Erste, was die Horsterin lernte. „Es gibt Kinder, die können aufgrund der anderen Art der Wahrnehmungsverarbeitung nicht sprechen, andere haben ein sehr gutes sprachliches Ausdrucksvermögen.“ Unterschiede gibt’s auch in Sachen Intelligenz: eben Jugendliche mit einer Inselbegabung wie im Kino-Hit „Rain Man“ mit Dustin Hoffman und Tom Cruise – und normal oder weniger intelligente Autisten.
Autistischer 15-Jähriger aus Gelsenkirchen kapituliert vor Liebeslyrik in der Schule
Gefördert werden sollten sie jedoch alle, um die Schwierigkeiten in der emotional-sozialen Begegnung möglichst auszugleichen: „Autisten haben Probleme, die Gefühle anderer in Gestik, Mimik und Tonlage zu lesen. Das erschwert die Kommunikation ungemein.“ Ihr Sohn etwa bewältigt den Unterrichtsstoff an der Regelschule mit Hilfe eines Integrationshelfers ganz gut, „als jetzt aber in Deutsch Liebeslyrik auf dem Plan stand, war er raus“, berichtet die Horsterin und betont: „Das heißt natürlich nicht, dass Autisten keine Gefühle haben oder empathielos wären. Sie können sie oft nur nicht zeigen und benennen.“
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Solche und andere Probleme sind immer wieder Thema in der Selbsthilfegruppe. Auch der Umgang mit vermeintlichen Wutanfällen kommt regelmäßig zur Sprache, die tatsächlich Ausdruck einer massiven Reizüberflutung sind, ebenso so genannte Shut-Downs, bei denen Autisten über Minuten wie eingefroren wirken („da fährt der Körper komplett runter in eine Art Stand-By, weil nichts mehr geht“). Eltern und auch Autisten müssten nun mal erst lernen, dass eine reizarme Umgebung existenziell wichtig ist.
Tim weiß mittlerweile selbst recht gut, wie er sich „runterpegelt“, sagt auch spontan, wenn ihm eine Situation zu viel wird. Dass dazu (auch gleichzeitiges) Youtube-Gucken auf dem Handy, am PC zocken und Musik hören gehören, ist ihr zwar ein Rätsel („mich würde das verrückt machen“). Aber mit diesem Staunen steht sie als Erziehungsberechtigte ja nicht allein da...
Selbsthilfegruppe trifft sich einmal monatlich in Sutum
Die Selbsthilfegruppe (SHG) für Eltern und Angehörige von autistischen Kindern trifft sich einmal monatlich an einem Dienstag um 18 Uhr im Gemeindesaal St. Clemens Maria Hofbauer an der Theodor-Otte-Straße 70 in Sutum. Das nächste Treffen findet am 13. September statt. Eine vorherige Anmeldung ist nicht nötig.
Unabhängig davon können sich Betroffene per Mail an Andrea Ahmann wenden ( andrea.ahmann@autismus-oberhausen.de).
Die SHG ist auch beim Selbsthilfe-Tag am Samstag, 10. September, 10 bis 14 Uhr, im Hans-Sachs-Haus vertreten.