Oberhausen. Von Sommerpause keine Spur: Die Literaturhäusler bestücken „Schlossnächte“ und „Lesesommer“ und erweisen polnischer Erzählkunst ihre Reverenz.

Nein, um das Literaturhaus Oberhausen muss sich niemand Sorgen machen, versichert Hartmut Kowsky-Kawelke. Natürlich hat auch der Vorsitzende des rührigen Oberhausener Vereins davon gehört, dass im nächsten Jahr das Literaturhaus Herne – die schickste Adresse für hochkarätige Lesungen im Ruhrgebiet – aufgeben wird. „Aber wir haben total unterschiedliche Strukturen“, so Kowsky-Kawelke, der seinen e.V. liebevoll als „eine Handvoll verrückter Ehrenamtlicher“ beschreibt.

Mit der alten Druckerei unterhält dagegen die Herner Buchhändlerin Elisabeth Röttsches nicht nur eine „fantastische Immobilie“, sondern leistet sich auch eine angestellte Programmleiterin. Und auf jene 10 oder 15 Euro Eintritt, für die sich im Gdanska Theater inspirierende Lesungen erleben lassen, darf man in Herne nicht setzen: „Dort bewegt man sich im Opernpublikum.“ Dabei liefert die Schönheit des Gesangs auch im aktuellen Literaturhaus-Programm ein überraschendes Sachbuch-Highlight.

Experimentelle Literatur zum genussvollen Picknick: Ulrike Anna Bleier liest im Grün der Zeche Alstaden aus „Spukhafte Fernwirkung“.
Experimentelle Literatur zum genussvollen Picknick: Ulrike Anna Bleier liest im Grün der Zeche Alstaden aus „Spukhafte Fernwirkung“. © Anja Schlamann

Doch los geht’s im Quartal ganz ohne Sommerpause mit einer Prise experimenteller Literatur – dargeboten in lauschigem Ambiente. Denn am Freitag, 14. Juli, bitten die Literaturhäusler unter altem Baumbestand rund um die Zeche Alstaden, Solbadstraße 53, zum inzwischen dritten „Literatur-Picknick“. Decken, Kissen sowie Körbe mit Speis und Trank sind mitzubringen, für die literarischen Appetithappen sorgt Ulrike Anna Bleier mit „Spukhafte Fernwirkung“.

Anregender Lesestoff fürs abendliche Picknick

Der Roman jongliert mit einem Personal von 15 gleichberechtigten Figuren, deren Wege sich kreuzen – oder auch nicht. „Das ist kein Mainstream“, meint Kowsky-Kawelke und verspricht doch anregenden Stoff für ein abendliches Picknick. Für ihr Figuren-Tableau entwickelte die 55-jährige Autorin aus Regensburg eigens „Die vierte Perspektive“, eine Roman-App, die User dazu einlädt, am Roman weiterzuschreiben.

Mit einem noch populäreren „Beteiligungs“-Ansatz seines Publikums machte sich Ferdinand von Schirach einen Namen: Der heute 59-jährige Strafverteidiger in den Berliner Mauerschützenprozessen der 1990er ließ sein Theaterpublikum in „Terror“ über das Schicksal eines gekidnappten Flugzeuges und seiner Besatzung abstimmen. Aus seinen drei Erzählbänden „Verbrechen“, „Schuld“ und „Strafe“ liest am Freitag, 28. Juli, die Schauspielerin Christine Sommer im Schlosshof der Ludwiggalerie, begleitet vom Gitarristen Udo Herbst. Von Schirachs Gabe, in wenigen Sätzen die großen Fragen des Lebens zu stellen, verbindet sich mit einer knappen, scheinbar ausschließlich „sachdienlichen“ Sprache – eine Herausforderung für die in etlichen Programmen versierte Leserin.

Christine Sommer gestaltet die „Schlossnacht“ des Literaturhauses mit ausgewählten Storys des Juristen Ferdinand von Schirach.
Christine Sommer gestaltet die „Schlossnacht“ des Literaturhauses mit ausgewählten Storys des Juristen Ferdinand von Schirach. © Jens van Zoest

Als Entdeckung des vereinseigenen „Literarischen Duetts“ präsentiert Katharina Hagena am Freitag, 11. August, in der Sterkrader Kneipe Klumpen Moritz, Bahnhofstraße 30, jene „Herzkraft“ (so der Buchtitel), zu der Singen verhilft. Rainer Piecha, der nicht nur im Literaturhaus-Vorstand, sondern auch als Chorsänger aktiv ist, lobt „ein tolles Buch“. Die Autorin aus Hamburg, studierte Anglistin und begeisterte Sängerin, lässt vom Physiologischen bis zum kulturellen Mehrwert keinen Aspekt des Singens aus – und sorgt natürlich auch für Musik zur Lesung, in Gestalt des Duos „Meer & Rausch“ mit der Sängerin Karin Klose und Pianist Nis Kötting.

Die Geburtsstunde des Grusel-Romans

Judith Kuckart hatte – es war mitten im winterlichen Lockdown – 2021 das bisher kleinste Literaturhaus-Publikum: Hartmut Kowsky-Kawelke hatte das Zwiegespräch vor der Web-Kamera genossen, möchte jetzt aber ein echtes Live-Erlebnis bieten. Im Gdanska Theater liest die Autorin am Freitag, 25. August, aus „Café der Unsichtbaren“. Die Autorin aus dem westfälischen Schwelm erzählt von sieben höchst unterschiedlichen Menschen, die sich alle beim „Sorgentelefon“ engagieren und erfahren, dass nächtliches Zuhören dem verzweifelten Gegenüber das Gefühl der Ausweglosigkeit nehmen kann. So entsteht ein unsichtbares Netz zwischen Rand und Mitte der Gesellschaft.

Allein mit Moderator und Kameramann: Dies war 2021 die Lockdown-Lesung von Judith Kuckart. Bei „Café der Unsichtbaren“ ist wieder alles live.
Allein mit Moderator und Kameramann: Dies war 2021 die Lockdown-Lesung von Judith Kuckart. Bei „Café der Unsichtbaren“ ist wieder alles live. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Seine Gabe für psychologischen Feinschliff hatte Markus Orths im Literaturhaus schon mit dem Roman „Max“ (über die sechs Frauen des Surrealisten Max Ernst) grandios bewiesen. In „Mary & Claire“ widmet er sich am Freitag, 8. September, der Geburtsstunde des literarischen Horrors anno 1816: In jener Gewitternacht in der Villa Diodati am Genfer See wetteiferten die Schwestern Mary Godwin und Claire Clairmont mit beider Liebhaber Percy Shelley sowie dem berüchtigten Libertin Gordon Lord Byron darum, wer sich die schauerlichste Erzählung ausdenken könnte. Angeregt von Wein und Laudanum keimte die Idee zu Dr. Frankenstein und seiner Kreatur.

Die Traumwelt des verlassenen Kindes

Als kleine Reverenz an ihre Gdanska-Gastgeber mag man „Das pinke Hochzeitsbuch“ werten, schließlich verehren Maria und Czeslaw Golebiewski die großen polnischen Literaten. Der in Lodz geborene Przemek Zybowski lebt seit 38 Jahren in Deutschland und machte sich hier zunächst als Theaterautor einen Namen. Der studierte Psychiater erzählt am Freitag, 22. September, in seinem Debütroman vom siebenjährigen Anhelli (später Markus), der bei seiner Großmama zurückbleibt, als die Eltern in den Westen fliehen. Das Kind selbst flüchtet sich in eine fantastisch-magische Welt, um sich so seine Verlassenheit zu erklären.

Noch mal zurück zur angekündigten Aufgabe des Herner Literaturhauses: „Man müsste eine Debatte anstoßen“, sagt Hartmut Kowsky-Kawelke. Und zwar um jenen Widersinn, dass die jeweils wenigen Tage eines Literaturfestivals wie der Lit.Ruhr mit stattlichen Summen öffentlich gefördert werden – das Land eine Bestandspflege aber tunlichst vermeidet. „Will man nur noch Festivals machen?“, fragt der Literaturhaus-Vorsitzende: „Uns ist kontinuierliche Arbeit viel wichtiger.“ Und die sorgt dann sogar für Festival-Highlights wie beim Sterkrader Lesesommer.

Anregende Literatur zum kleinen Eintrittspreis

Für fünf der sechs Termine des Literaturhauses gilt: Eintritt 10 Euro, ermäßigt 5 Euro. Teurer ist mit 17,50 Euro, ermäßigt 10 Euro, nur die „Schlossnacht“ mit Christine Sommer und Gitarrist Udo Herbst. Sie beginnt um 19.30 Uhr, die fünf anderen Lesungen starten jeweils um 19 Uhr (Einlass 18 Uhr).

Den Vorverkauf fürs Literaturhaus im Gdanska übernimmt natürlich das Gdanska selbst, zudem gibt’s Karten in Sterkrade bei der Buchhandlung Wiebus und in Schmachtendorf bei Brinkmanns Tabakwaren. „Schlossnächte“-Tickets gibt’s bei den Tourist-Infos sowie beim Ebertbad. Online informiert literaturhaus-oberhausen.de