Essen. Der schriftstellernde Rechtsanwalt hat mit Fachleuten über die EU-Menschenrechts-Charta beraten - und schlägt sechs neue Ergänzungs-Artikel vor.

Man muss schon ein wenig ausholen, um dieses Büchlein richtig einzuordnen. Was in dem Fall heißt, mit dem Urgroßvater der Urgroßmutter Ferdinand von Schirachs zu beginnen. Der hieß nämlich John Middleton und unterzeichnete am 4. Juli 1776 mit 55 anderen Delegierten die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, einen der ersten Grundsteine für unsere moderne Gesellschaft und unsere Freiheitsrechte. Ein anderer Verwandter Ferdinand von Schirachs, sein Großvater Baldur von Schirach, als Reichsjugendführer und Reichsstatthalter in Wien einer der Hauptkriegsverbrecher der Nazis, verriet später während der Hitler-Diktatur all die Menschenrechte, für die seine Vorfahren einst gekämpft hatten.

So erklärt sich das Sendungsbewusstsein Ferdinand von Schirachs. Ein wenig Hybris schwingt schon mit, wenn der Strafverteidiger und Schriftsteller sich jetzt anmaßt, mit einer Initiative und dem Büchlein „Jeder Mensch“ die vor gut zehn Jahren in Kraft getretene „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ aufzupolieren. Er beruft sich dabei auf die 1787 beschlossene amerikanische Verfassung und auf die 1789 während der Französischen Revolution ausgerufene „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“. Beide Dokumente seien ihrer Zeit weit voraus und also Utopien gewesen, schreibt von Schirach, und untermauert das mit zwei Beispielen. So hatten fast die Hälfte der Delegierten in Philadelphia selbst noch Sklaven, obwohl sie in ihrer Verfassung Freiheit für alle festschrieben. „George Washington, der den Konvent leitete, trug eine Zahnprothese aus Elfenbein und neun Zähnen, die seinen Sklaven gezogen worden waren.“ Und nach dem Sturm auf die Bastille und der „Erklärung der Menschenrechte“ in Frankreich regierte nicht Vernunft wie propagiert, sondern vielmehr die Guillotine.

Recht auf geschützte Umwelt und digitale Selbstbestimmung

Die Kraft der beiden Erklärungen von 1776 und 1789 wünscht sich Ferdinand von Schirach auch für die Charta der Grundrechte in Europa. Zumal die Mütter und Väter der bisherigen Verfassung weder Internet, Soziale Medien, Macht der Algorithmen, Künstliche Intelligenz noch Globalisierung gekannt hätten. Ein Manko, das von Schirach mit sechs Zusatzartikeln beheben will. Artikel 1: „Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.“ Artikel 2: „Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.“ Artikel 3: „Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen“. Artikel 4: „Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.“ Artikel 5: „Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.“ Artikel 6: „Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.“

„Diese Rechte sind eine Ergänzung unserer Grundrechte in Europa, keine Kritik an ihnen“, schreibt von Schirach, der die Artikel in der gleichen nüchtern schlichten Sprache gehalten hat wie seine Romane. „Einfachheit ist selten ein Nachteil“, schreibt er selbst. Bedenken, dass die Artikel kein gesetzliches Verfahren durchlaufen hätten, Experten nicht dazu gehört worden seien und nie eine Kommission über sie entschieden hätte, wischt er ebenso beiseite wie den Einwand, es bräuchte „keine neuen Rechte, das alles gebe es bereits in Ansätzen“.

Unterschreiben auf www.jeder-mensch.eu

Durchsetzen will er die Grundrechte, die er mit renommierten Rechtsanwälten und Juraprofessoren erarbeitet hat, durch Bürgerbeteiligung und einen Verfassungskonvent und ruft deswegen dazu auf, im Internet eine Petition auf www.jeder-mensch.eu zu unterschreiben. Die Bastille muss heute niemand mehr stürmen. „Sie können also am Schreibtisch auf ihrem Laptop oder im Kaffeehaus auf ihrem Smartphone für die neuen Rechte stimmen.“ Die Einnahmen aus dem Verkauf des Büchleins gehen an einen gemeinnützigen Verein, der sich für die Durchsetzung dieser Rechte bemüht.

Ferdinand von Schirach benutzt seine Prominenz als Bestsellerautor („Schuld“, 2010) und Dramatiker („Gott“, 2020), um Aufmerksamkeit auf eine Sache zu lenken, die ihm am Herzen liegt. Soll er. Ob es seine neuen Grundrechte wirklich braucht, darüber sollen Juristen streiten. Gedruckt werden hätte sein dünnes Büchlein weiß Gott nicht müssen, das bei Amazon vor der Veröffentlichung schon ein Bestseller war. Was viel über den heutigen Buchmarkt aussagt. Sogar als Hörbuch gibt es das Traktat.

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch. Luchterhand, 32 Seiten, 5 Euro.