Oberhausen. Die Stadt muss bei der Unterbringung erfinderisch sein. Einige kommen im Marienhospital unter. Trauer und Trost im Krankenzimmer.
Krieg und kein Ende in Sicht: Während in der Ukraine Gebiete erobert, zurückerobert und dann erneut bombardiert werden; während die russischen Angreifer weiterhin Gebäude zerstören, Infrastruktur lahmlegen und Menschen töten, müssen die Geflüchteten nicht nur die Schreckensbilder ertragen, die auf ihre Smartphones gespült werden. Sie müssen sich auch damit abfinden, dass sie zurzeit keine Pläne machen können bezüglich der Rückkehr in ihr altes Leben – zu ihrer Familie, ihren Freunden, ihrer Heimat. Mehr und mehr richten sie sich in der neuen Wirklichkeit ein: als Neuankömmlinge in einem fremden Land, in dem sie bei null anfangen müssen. Wie Alisa Honcharova, die wir in einem Teil des Oberhausener Marienhospitals getroffen haben, der vom Klinikbetreiber Ameos seit Mitte März an die Stadt zur Unterbringung von Geflüchteten vermietet wurde.
Alisa ist eine hübsche junge Frau. Gepflegt, mit akkurat gezupften Augenbrauen. Bevor sie Ende August ihre Kleinstadt in der Nähe von Charkiw verließ, arbeitete die 26-Jährige als Kosmetikerin. Fingernagelmodellage, das war ihr Fachgebiet. „Ich habe lange gebraucht, bis ich mich entschieden habe, das Land zu verlassen“, erzählt sie auf dem Krankenhaus-Flur. Vor ihr der klassische metallene Rollwagen mit mehreren Thermoskannen und weißen Bechern. Zum Glück riecht es nicht mehr nach Klinik, es würde alles noch merkwürdiger machen. Alisa und den anderen Männern, Frauen und Kindern, die hier entlanggehen, herumstehen, neugierig zuhören oder auch verschämt in ihr Zimmer huschen, ist dies wahrscheinlich völlig egal. Sie denken an ihr Zuhause, an den Krieg, aber vor allem auch: an morgen.
Geflüchtete in Oberhausen: Stadt nimmt viel mehr auf, als sie müsste
230 Geflüchtete könnte die Stadt im St. Marien-Klinikum an der Nürnberger Straße unterbringen, 90 Plätze sind derzeit belegt. Mehr sollen es auch nicht werden, denn Oberhausen hat seit Beginn des Krieges sehr viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen, „viel mehr als wir mussten“, erklärt Marcel Tersteegen, städtischer Fachbereichsleiter Wirtschaftliche Hilfen für Flüchtlinge und Asylbewerber. Bisher sind 3782 in Oberhausen registriert worden. Aktuell liege die Stadt mit 128,21 Prozent und 791 Geflüchteten weit über dem Soll. Zurzeit dürften sich Neuzugänge nur in Ausnahmefällen hier niederlassen. Dennoch werde mit Ameos derzeit darüber verhandelt, die Anmietung über das Vertragsende zum 31.12. fortzuführen. Welche Kosten dies für die Stadt bedeutet und welchen Gewinn für Ameos, das ja unter großer Kritik mehrere Abteilungen wie die Orthopädie, Innere Medizin und Geriatrie an einen anderen Standort verlagert hat, mit dem Geschäft erzielt, wollten beide Seiten auf unsere Nachfrage nicht verraten.
Diese Dinge, die im Hintergrund verhandelt werden, dürften Alisa nicht besonders beschäftigen. Sie ist froh, in Sicherheit zu sein. Als Letztes musste sie noch erleben, wie die beiden Schulen in ihrem Ort zerbombt wurden. „Es gibt nun keine Möglichkeit mehr für Kinder, unterrichtet zu werden“, sagt sie. Online-Schooling sei nicht möglich, wenn ständig der Strom ausfällt. „Es ist sehr schwer, in Worte zu fassen, wie es sich anfühlt, im Krieg zu leben“, sagt sie. „Du weißt niemals, was als Nächstes passiert.“ Sie hoffe sehr, dass auch ihre Mutter ihr bald folgt. In der Zwischenzeit besucht sie einen Deutschkurs und versucht, mit Sport die dunklen Gedanken zu vertreiben.
Zurück ins Kriegsgebiet: Manchen ist der Neuanfang zu viel
„Der große Stress hat sich beruhigt“, stellt Murat Cebeci fest, wenn er über „seine“ Bewohnerinnen und Bewohner im Marienhospital spricht. Der 43-Jährige ist Standortleiter im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes. „Viele sind in Privatunterkünfte gezogen, das ging sehr flott.“ Er lobt die gute Zusammenarbeit mit der Stadt. Etwa 20 Personen seien zurückgekehrt in die Ukraine, „zumeist ältere Alleinreisende, denen das alles zu viel war.“ Er versteht die Menschen, denen ein Neuanfang im höheren Alter Angst macht. „Manche ziehen in andere Städte, andere bleiben sicherheitshalber auf Nato-Boden, aber in Grenznähe wie zum Beispiel in Polen, einige kehren in ihre Heimat zurück“, weiß Marcel Tersteegen aus Erfahrung.
Für Sergey und Tatiana Tvierdokhliebov ist das keine Option. Auf dem Handy zeigen sie Fotos von ihrem völlig verwüsteten Haus in Charkiw, mit 1,5 Millionen Einwohnern zweitgrößte Stadt der Ukraine. Nur ein paar Unterlagen hätten sie noch finden können in den Trümmern. Der Hund der Familie blieb verschollen. „Bestimmt ist er tot“, vermutet Sergey. Sie hätten ein schönes Leben gehabt, erzählt er. Als Bau-Ingenieur habe er mit dem Errichten von Häusern 1500 Dollar verdient. „Das ist viel Geld in der Ukraine“, erklärt Übersetzerin Ayshan Ahmadova. Als rechte Hand von Murat Cebeci ist sie für alle Belange der Bewohner zuständig. Sie stammt aus Aserbaidschan und spricht auch Russisch.
Plötzlich Kriegsopfer: Wenn die Ereignisse sprachlos machen
„Die nächsten zwei bis drei Jahre wird der Krieg bestimmt noch andauern“, sagt Sergey. Für ihn geht der Blick nach vorn. „New Life in Germany“, sagt er auf Englisch – neues Leben in Deutschland. Seine Frau, die in der Ukraine in einem Elektrizitätswerk arbeitete, und er lernen Deutsch. Ihr Sohn Olexandr besucht die siebte Klasse der Fasia-Jansen-Gesamtschule. Er lebt sich gut ein, hat Freunde gefunden. „Ich fühle mich beruhigt und in Sicherheit“, sagt Tatiana leise. Bisher hat sie dem Gespräch nur gelauscht, einen Schritt entfernt und etwas blass. Es muss merkwürdig sein, von anderen so befragt zu werden. Plötzlich Kriegsopfer zu sein, wo doch vor einigen Monaten noch das Leben ein ganz normales war.
Auch das Rotkreuz-Team im Marienhospital leidet mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Dies ist kein Job wie jeder andere. „Ich nehme die Arbeit auf jeden Fall mit nach Hause“, sagt Murat Cebeci, der Wurzeln in der Türkei hat. „Ich habe zwei Söhne. Da redet man schon mal darüber, wie gut es uns geht.“ Ayshan Ahmadova, 33 und studierte Mathematik-Lehrerin, berichtet aber auch von „großen, schönen Gefühlen“, wenn wieder ein Problem gelöst werden konnte. Die Dankbarkeit, die darauf folgt, würde sehr glücklich machen. „Wir sind eine große Familie geworden“, sagt Murat Cebeci. Und wenn einer der Kinder ihm in die Arme fällt und ihn feste drückt, das sei das Allerschönste.
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