Oberhausen. Hendrik Bolz alias Testo war für eine Lesung im Gdanska Oberhausen. In seinem Roman seziert er seine Jugend im ostdeutschen Wendechaos.

Da sitzt er im Scheinwerferlicht. Nippt an seinem Wasserglas - und erzählt so angewidert von gebratener Leber auf dem Mittagsteller, dass einem selbst die Galle hochkommt. Rapper Hendrik Bolz serviert den Zuhörern seiner zweieinhalb Stunden langen Lesung im Gdanska Oberhausen keine Schonkost. Schildert atmosphärisch - und nie auf Sparflamme.

Der Mann aus Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern, Jahrgang 1988, erzählt am Freitagabend für das Frühlingsprogramm des Literaturhauses von einem Kindergarten-Trauma. Von autoritären Erzieherinnen. Dem mühsamen Kauen unter Zwang. Und dem bohrenden Gefühl eines Fußabtreters.

Hendrik Bolz: Kampfhunde bellen in grauen Häuserschluchten

Es ist eine frühe Episode aus „Nullerjahre: Jugend in blühenden Landschaften“. Als Menschen im Osten des Nachwende-Deutschlands mühsam nach Orientierung suchten. Die rote Diktatur im Rückspiegel. Hohe Arbeitslosigkeit vor Augen. Fressen oder gefressen werden.

Bolz und „Nullerjahre“ zieht die Zuhörer im Gdanska-Saal nicht in die schicke Stralsunder Altstadt, sondern zwischen die karge Plattenbau-Siedlungen von Knieper West. Verblühende Landschaften.

Es ist die Zeit, in der die rechte Jugendkultur im Viertel als normalisiert betrachtet wird. Von der DDR versteckt, bricht sie nach der Wende offen heraus. Kahlgeschorene in Bomberjacken buhlen um die schönsten Mädchen. Wer Bolz zuhört, meint Kampfhunde in den Häuserschluchten kläffen zu hören. Er sieht Jugendliche auf der Wippe von heruntergekommenen Spielplätzen johlen. Und kann beinah die rohe Gewalt nachfühlen, die Bolz am eigenen Leib erfährt - und selbst ausübt.

„Ich und mein Umfeld haben nicht die beste Rolle gespielt“, sagt über sein Erwachsenwerden. Vom wütenden Hendrik von damals ist nichts geblieben.

Hendrik Bolz rappte schon vor Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier

Heute rappt er als Testo, bildet 50 Prozent des Hip-Hop-Duos „Zugezogen Maskulin“ - und ist schon vor Kanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aufgetreten. Hendrik Bolz stellt in seinem Debütroman viele Frage - und antwortet ungeschminkt. Wie wird man, wenn man in das Wendechaos hineingeboren wird?

Bolz schildert packend die Angst, unter die Räder zu kommen. Die Angst, Schwäche zu zeigen. In einem rauen Umfeld, in dem „schwul“ als Schimpfwort gilt. Und er im Kung-Fu-Kurs für sein Einser-Zeugnis ausgelacht wird, weil dies kein „Jungen-Zeugnis“ sei.

Der Autor entkoppelt sich später aus der unheilvollen Nachbarschaft. Es folgt die Welt der Rapper - Bushido, Sido und Fler werden populär. Drogenkonsum gehört nun gemeinsam mit seinen Kumpeln zum Alltag.

Bis zu dem Tag an dem US-Präsident George W. Bush auf Einladung von Angela Merkel plötzlich Stralsund besucht. Und seine Welt zur blubbernden Wasserpfeife und zugeschweißten Gulli-Deckel surreal wird.

Hendrik Bolz schildert die „Nullerjahre“ schonungslos, in schwindelerregendem Tempo - und voller zeitgenössischer Wucht. Ein bisschen von seinem wilden Osten erkennt jeder wieder. Das liegt nicht nur an McDonalds-Aschenbechern, abgesägten Nothämmern aus dem Bus, den Simpsons im TV und überall sichtbaren Eastpak-Rucksäcken. Lesenswert!

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In der anschließenden Diskussion mit WDR-Podcast-Gastgeber Jan Kawelke („Machiavelli“) ging es um die Frage, ob es die Plattenbauten von Stralsund auch in Oberhausen gibt. Fazit: Jein!

Das Literaturhaus Oberhausen ist von der Oberen Marktstraße ins Gdanska Oberhausen umgezogen. Wegen des großen Interesses fand die Lesung von Hendrik Bolz im Konzertsaal statt.

Künftig werden die Lesung im benachbarten Gdanska-Theater über die Bühne gehen. Nächster Termin: Freitag, 22. April, mit der Autorin Mirjam Wittig und dem Roman „An der Grasnarbe“. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 5 Euro.