Oberhausen. Der Lockdown befeuert Depressionen. Aber es seien ausgerechnet Covid-Patienten, die Traumatisches erleben, sagt Oberhausener Chefarzt Jens Kuhn.
Die psychischen Schäden durch den Lockdown sind genauso wenig wegzudiskutieren wie die Gefahr durch das Coronavirus. Läuft parallel zur Viruspandemie die Depressionspandemie? Hätten wir neben den Drostens und Kekulés auch mehr Wissenschaftler vom Fache Jens Kuhns (46) hören müssen? Hier spricht der Chefarzt der Psychiatrie am Johanniter Krankenhaus in Oberhausen-Sterkrade: über neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft, die Abwägung zwischen Virus-Gefahr und seelischen Schäden und Aktivitäten, die wirklich entlasten.
Herr. Prof. Dr. Kuhn, hätte man die Gefahr durch das Virus und die möglichen seelischen Schäden durch die Lockdown-Politik besser abwägen müssen?
Dies ist zweifellos versucht worden, stellt aber in der Tat eine große Schwierigkeit dar. Je länger und ausgeprägter der Lockdown aufrechterhalten wird, desto stärker die psychische Belastung. Andererseits: Gäbe es keine Maßnahmen, um eine Überforderung des Gesundheitssystems zu verhindern, dann wäre es – neben der vitalen Gefährdung - vielleicht zu ähnlich schrecklichen Bildern wie in Italien gekommen. Das hätte die psychische Gesundheit vieler Menschen ebenso gefährdet.
Also wurde von einem psychologischen Gesichtspunkt alles richtig gemacht?
Anhand von Studien hat sich gezeigt, dass eine bestmögliche Aufklärung der Bevölkerung über die Gefährlichkeit des Virus, die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen und die Impfung hilfreich ist, um psychischen Stress abzubauen. In vielen Facetten ist das sicher gut gelungen. Ob in der Kommunikation nicht zu viele Ängste geweckt worden sind und ob hinsichtlich der schwierigen Abwägungen zwischen Virus-Gefahr und anderen Problemen immer der ideale Weg eingeschlagen wurde, wird sich aber erst im Nachhinein zeigen.
Erwarten Sie denn bei vielen Menschen psychische Langzeitschäden?
Psychische Belastungen sind derzeit bei 40 bis 60 Prozent der Bevölkerung zu beobachten. Viele Menschen reagieren mit verstärkter Ängstlichkeit und depressiven Symptomen wie niedergedrückter Stimmung, Freudlosigkeit und starkem Erleben von Hilflosigkeit. Wie häufig und ob überhaupt Langzeitschäden auftreten werden, ist aber noch nicht abzusehen. Beobachten kann man sie allerdings bereits bei Menschen, die eine schwere Covid-Erkrankung durchlebt haben. Für manche ist dies geradezu traumatisierend gewesen.
Gibt es bei Ihnen den typischen Lockdown-Patienten?
Viele Patienten mit Depressionen, Angst- und Suchterkrankungen sowie Persönlichkeitsstörungen leiden verstärkt unter der Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen. Sie verspüren mehr Belastung und schaffen es nicht mehr, sich aus eigener Hand selbst zu stabilisieren. Allerdings sind psychische Vorerkrankungen nicht mit einem erhöhten Risiko behaftet, einen schweren Covid-19-Verlauf zu erfahren – mit Ausnahme von Patienten mit Schizophrenie. Diese Patienten scheinen hinsichtlich einer Infektion weniger besorgt, aber Studien zeigen, dass sie ein größeres Risiko haben, einen schweren Verlauf zu nehmen.
Welche Gründe hat das?
Dies ist nicht vollständig verstanden. Grundsätzlich wissen wir, dass sich Patienten mit Schizophrenie weniger um ihre Gesundheitsfürsorge kümmern und auch deswegen eine kürzere Lebenserwartung haben. Es lässt sich annehmen, dass das zu einem erhöhten Risiko bei Corona führt.
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Arbeiten Sie selbst an coronabezogenen Studien?
Es gibt erste Hinweise darauf, dass eine Vorbehandlung mit Antidepressiva den Verlauf einer Covid-Erkrankung günstig beeinflussen könnte. Zugrunde liegt vermutlich eine generelle Beeinflussung des Immunsystem durch diese Medikamente, wie erste internationale Arbeiten zeigen. Gemeinsam mit Kollegen im Ruhrgebiet gehen wir dieser Frage weiter nach.
Wo sind mit Blick auf die geistige Gesundheit zuerst weitere Lockerungen wünschenswert?
Neben Schulöffnungen und Erleichterungen hinsichtlich der sozialen Kontakte, halte ich die Frage für zentral, wann wieder mehr organisierter Sport möglich sein wird. Für die psychische Gesundheit ist das ein ganz wichtiger Faktor.
Spezialisiert auf Psychiatrie
Auch als Reaktion auf den wachsenden Behandlungsbedarf durch die psychischen Corona-Schäden hat das Johanniter Krankenhaus erst Ende 2020 eine neue Depressionsstation mit 20 Betten eröffnet. Die Warteliste für die Station sei allerdings sehr lang, sagt Chefarzt Kuhn.
Das Johanniter Krankenhaus ist auf psychiatrische Erkrankungen spezialisiert. Dort gibt es unter anderem eine Schwerpunkstation für Akut- und Notfallpsychiatrie, für Abhängigkeitserkrankungen, für psychische Störungen im hohen Lebensalter und eine Station mit psychotherapeutischem Schwerpunkt. Auch angesiedelt am Krankenhaus sind die psychiatrische Tagesklinik und Institutsambulanz.
Mal baden gehen, mal einen Spaziergang machen: Das sind derzeit häufige Tipps, wenn es darum geht, die seelische Gesundheit im pandemiebedingten Zusatzstress zu pflegen. Kann man den Menschen damit wirklich helfen?
Leider gibt es neben diesen sehr trivial anmutenden Tipps momentan nur sehr begrenzte Möglichkeiten. Wichtig ist es, die Tagesstruktur beizubehalten, Zeit draußen zu verbringen, wenn möglich etwas Ausdauersport zu machen und die ein oder andere Tätigkeit wertschätzend durchzuführen, für die sich in früheren Zeiten nie die Möglichkeit ergab. Man sollte die sozialen Medien bewusst nutzen, um Kontakte zu pflegen. Aber irgendwann sind bei den meisten die Kräfte aufgebraucht – gerade bei Menschen, die allein leben, die psychisch vorerkrankt sind und auch bei Eltern, die im Homeoffice Kinder betreuen.
Die zweite Welle ist nicht überstanden und schon sorgt man sich um eine dritte Welle, ausgelöst durch Mutationen. So schnell werden die Menschen auch psychisch nicht gesunden, oder?
Psychische Erkrankungen sind oftmals saisonal gebunden. Durch die Wintermonate haben wir es fast geschafft. Mit dem bevorstehenden Frühling, den größeren Möglichkeiten unter Abstandsregeln draußen aktiv zu sein und den steigenden Impfzahlen sollten sowohl Pandemie und psychische Gesundheit sich stabilisieren können. Das gibt mir durchaus etwas Hoffnung.