Gladbeck. In der Corona-Krise brechen Tagesstrukturen weg. Darunter leiden Senioren in Gladbeck stark, die Suchtgefahr steigt. Zwei Ärztinnen berichten.
Mit einem Schlag ist nichts mehr, wie es mal war. Die Ausbreitung des Coronavirus’ bringt das Leben, das sich viele Senioren eingerichtet haben, aus den Fugen. Mit bisweilen gravierenden Folgen für Körper und Seele, wie die Ärztinnen Dr. Astrid Rudel und Dr. Andrea Erdmann zu berichten wissen, die auch Patienten aus Gladbeck betreuen.
Was der älteren Generation in ihrem Alltag lieb und teuer ist, bricht ihnen häufig in Folge der Corona-Schutzmaßnahmen weg: „Geselliges Beisammensein, gemeinsames Erleben und Erfahren sind tragende Elemente unseres sozialen Lebens und fördern seelisches Wohlbefinden. Wir haben gelernt, dass insbesondere die Älteren in besonderem Maß durch das Coronavirus betroffen sind.“ Durch körperlichen Abstand werde versucht, die Gefahren einer Ansteckung mit dem Virus einzudämmen. „In der psychiatrischen Praxis erleben wir allerdings insbesondere einen großen Balanceakt in der Abwägung zwischen der Eingrenzung von Infektionsrisiken der besonders Gefährdeten und der Lebensqualität dieser Bevölkerungsgruppe“, so die Expertinnen (siehe Info-Box). Die Einschränkungen von Kontakten – oder gar deren gänzliche Sperre – können schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.
Gladbeck: Besonders schwer war die Isolation für Altenheim-Bewohner im ersten Lockdown zu ertragen
Rudel und Erdmann fällt da als Beispiel ein rüstiger Rentner ein, der in seiner Wohnung lebte. Einmal am Tag besuchte er die Familie seiner Tochter, um mit ihr gemeinsam zu Mittag zu essen. Mit dem Ausbruch der Pandemie fiel dieses Ritual weg. Zunächst habe der Mann diesen Kontaktverlust verschmerzen können. Aber dabei blieb es nicht: die Proben des Männergesangsvereins – eingestellt; der Besuch im Stadion – gestrichen; andere Begegnungen – fielen aus. Der Rentner griff zu Alkohol. Mit einem Bier am Nachmittag habe es angefangen. Tag für Tag habe der Mann die Trinkmenge erhöht. „Eines Tages kam die Enkelin in die Wohnung und fand den Opa völlig betrunken vor. Sie alarmierte den Rettungsdienst“, berichten die Medizinerinnen. Nach Überwachung auf der Intensivstation wurde er in der psychiatrischen Klinik vorgestellt.
Doch was tun in Zeiten, in denen zwischenmenschliche Kontakte in realiter eine Gefahr darstellen? Es gibt durchaus Wege, einer Vereinsamung entgegen zu wirken und dennoch die Ängste der Angehörigen zu berücksichtigen, weiß Dr. Astrid Rudel. Zur Lösung in diesem Falle trugen bei, dass der Enkel für seinen Großvater ein Videokonferenz-Programm auf dem Tablet installierte und eine Nachbarschaftshilfe organisiert wurde. Zudem wurde „eine ambulante psychiatrische Anbindung mit regelmäßigen Gesprächskontakten in die Wege geleitet“: „Es kam insgesamt zu einer Stabilisierung der Verfassung.“
„Einsamkeit bei fehlender sozialer Teilhabe erhöht das Risiko für Schwermut bis hin zur Depression“
Ein sinnvoll erfülltes Leben und intaktes Familienumfeld spielen gerade in der aktuellen Lage eine wichtige Rolle, betont Rudel. Besonders schwer erträglich sei die Isolation für Menschen in Senioreneinrichtungen während des ersten Lockdowns vor fast einem Jahr gewesen. Dabei räumt die Medizinerin durchaus ein: „Ich verstehe beide Seiten.“ Diejenigen, die eine Kontaktsperre verhängten, um die Bewohner zu schützen, aber auch die alten Menschen, die keine Besuche mehr erhielten. Die Expertin meint: „Es ist wichtig, den Eintrag in den Seniorenheimen zu erhalten. Man ist jetzt ja bemüht, wieder Besuche zu ermöglichen.“
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Wie sehr die Bewohner seelisch und körperlich leiden können, zeigt das Beispiel eines an Demenz erkrankten Mannes. „Die sonst täglichen familiären Kontakte fielen im Rahmen der Besuchsregelungen geringer aus. Er entwickelte einen ausgeprägten Appetitmangel, es kam zu Ängsten“, entsinnen sich Rudel und Erdmann. Eine Tochter entschloss sich schließlich, den Vater zu sich nach Hause zu holen. Und: „Im Kreis der Angehörigen blühte er regelrecht auf. Er nahm aktiv am Familienleben teil.“ Gerade Demenzerkrankte, so die Feststellung, reagieren empfindlich auf Veränderungen des gewohnten Umfelds. Genau das aber ziehen die Corona-Maßnahmen nach sich.
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Die Expertinnen
Dr. Astrid Rudel ist Chefärztin an den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie im Elisabeth-Krankenhaus Gelsenkirchen und im St.-Antonius-Krankenhaus Bottrop. Dr. Andrea Erdmann ist leitende Oberärztin und Standortleitung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Elisabeth-Krankenhaus Gelsenkirchen.
In dieser Klinik, so Rudel, stehen 110 stationäre Plätze zur Verfügung. „Hinzu kommen die Tagesklinik und die Ambulanz.“ Im Bereich der Gerontopsychiatrie gibt es 24 Plätze. Im St.-Antonius-Krankenhaus Bottrop umfassen die stationären Tagesplätze und die Ambulanz zusammen 120 Plätze.
Dr. Astrid Rudel erläutert: „Die Gerontopsychiatrie ist Teil der Psychiatrie.“ Auf diesem Gebiet beschäftigen sich die Fachleute mit älteren Menschen – ab etwa dem 65. Lebensjahr – und ihren psychischen Erkrankungen. In der geriatrischen Medizin werden „primär körperliche Erkrankungen“ alter Patienten behandelt.
Einsamkeit, Wegfall von geliebten Gewohnheiten und psychische Belastungen – Senioren sind besonders der Gefahr schwerer Verläufe einer Corona-Erkrankung ausgesetzt – beeinträchtigen häufig stark die ältere Generation. Die Folge kann ein erhöhter Suchtmittelkonsum, zum Beispiel von Alkohol oder Schlaftabletten, sein. Denn: „Die durch die Pandemie verringerte Mobilität erhöht das Risiko für Schmerz und Schlafstörungen durch fehlende körperliche Betätigung; und die Einsamkeit bei fehlender sozialer Teilhabe erhöht das Risiko für Schwermut bis hin zur Depression.“ Dieser Konsum geschehe oft im Verborgenen: „Die Gefahr von Abhängigkeitserkrankungen erhöht sich, wenn ältere Menschen sich stark zurückziehen.“ Senioren mit Kriegserfahrungen können einerseits eine zuversichtliche Lebenshaltung einnehmen, nach der Devise: „Ich habe schon so vieles bewältigt, dann schaffe ich diese Pandemie-Zeit auch.“ Oder aber, so Rudels Erfahrung: „Hochbetagte haben die Tendenz, viel in sich hineinzufressen.“
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Bei Frauen „geht’s häufiger um Schlaftabletten“. Wie in einem weiteren Fallbeispiel. Bereits seit Jahren litt eine 75-Jährige unter Schlafstörungen. Sie war aber eine sehr aktive Frau, engagiert im Ehrenamt, gesundheitsbewusst. Die Seniorin nahm an einer Nordic-walking-Gruppe teil, traf sich mit Freundinnen. Nachdem coronabedingt ihr übliches Tagesprogramm eingeschränkt war, fiel es ihr immer schwerer, abends einzuschlafen. Sie ließ sich ein Schlafmittel verschreiben. Eines Tages nahm die Seniorin einige der Tabletten. „Im selben Moment wurde ihr klar, dass das gefährlich sein könne, und rief den Rettungsdienst.“ In der Psychiatrie wurde eine schwere depressive Symptomatik in Zusammenhang mit massiven Einschnitten in der früheren Lebensgestaltung diagnostiziert. Die 75-Jährige erlernte Entspannungsverfahren und Möglichkeiten, neue Lebensqualität und neuen Lebensmut zu finden – auch in Corona-Zeiten.