Gelsenkirchen. Corona, Koma, Amnesie: Der lange Weg zurück ins Leben - so erging es Feuerwehrmann Christian Kanisius aus Gelsenkirchen.

Dieser Text ist zum ersten Mal am 12. Oktober 2020 erschienen.

Christian Kanisius ist kerngesund, als er an Covid-19 erkrankt. Der 41-Jährige überlebt nur knapp, muss 17 Tage im Koma künstlich beatmet werden. Danach ist er so schwach, dass er „nicht einmal mehr ein Brötchen schmieren kann, ohne sich zu schneiden“. Heute, nach einer Höllentour über sechs Monate, eilt er wieder anderen zu Hilfe. Der Familienvater ist Wachabteilungsführer an der Feuerwache 1 in Gelsenkirchen.

„Ich war hart an der Grenze“, sagt Christian Kanisius. „Zweimal. Die Ärzte und Pfleger haben mir das Leben gerettet.“ Herausragend sei ihre Unterstützung gewesen, auch von seiner Familie, von seinen Freunden, von seinen Kollegen. „Ohne diese vielen helfenden Hände wäre ich heute nicht hier“, sagt der 41-Jährige voller Dankbarkeit.

Gelsenkirchener Retter ist ein Fitness-Freak, fährt mit Kumpels zum Skifahren nach Ischgl

Christian Kanisius ist ein Kerl wie ein Baum, als er Ende Februar 2020 mit seinen Kumpels in die Skifreizeit ins österreichische Ischgl fährt. Durchtrainiert, ein Fitness-Freak, 100 Kilo pure Energie und Bewegungsdrang. Tagsüber Piste, abends Einkehr in Pubs und Gaststätten. Als er sich nach ein paar Tagen schlechter fühlt, glaubt er noch an eine fiese Erkältung. „Corona gab’s da noch nicht in meinem Kopf, das war nicht greifbar.“ Der Arzt vor Ort „diagnostiziert eine Mittelohrentzündung – wird schon“, denkt er sich daher.

Besser wird es aber nicht. Wie ein Akku unter Dauerlast schwindet die Energie stetig. Zurück in Deutschland geht er zum Arzt, nervös, weil ein Ski-Freund positiv auf Corona getestet wurde. Die Ergebnisse brauchen zu der Zeit allerdings noch viele Tage. Währenddessen geht es ihm immer schlechter, das Fieber zerrt hartnäckig an der Substanz, Schüttelfrost kommt hinzu. „Als dann ich dann noch Atemnot bekam, bin ich in Marl zur Klinik.“ Als Feuerwehrmann mit vielen Kontakten dringt er auf einen Test, aber auch hier ist erst einmal Warten angesagt.

Gelsenkirchener Feuerwehrmann liegt 17 Tage im künstlichen Koma: Völlige Leere

„Zwei Tage später bin ich ins Krankenhaus eingeliefert worden“ erzählt Christian Kanisius. Intensivstation. Der Sauerstoffsättigung seines Blutes sinkt bedenklich, wird überwacht. Schlapp wie ein nasses Handtuch, so beschreibt der Brandoberinspektor seinen Zustand. Mehr und mehr verliert er die Kontrolle über sich und sein Leben. 20 Stunden später ist klar, er muss beatmet und ins künstliche Koma versetzt werden. „Ich konnte nichts mehr“, sagt der Vater von zwei kleinen Kindern, vier und fünf Jahre alt. Angst steigt erstmals auf, und Panik: „Was passiert jetzt, wie geht es aus, sehe ich meine Liebsten wieder?“

An einem solchen Gerät (Symbolbild) für die künstliche Beatmung war der Gelsenkirchener Feuerwehrmann Christian Kanisius angeschlossen, während er im Koma lag.
An einem solchen Gerät (Symbolbild) für die künstliche Beatmung war der Gelsenkirchener Feuerwehrmann Christian Kanisius angeschlossen, während er im Koma lag. © FUNKE Foto Services | Volker Speckenwirth

„Totale Leere und völlige Hilflosigkeit“, das sind die ersten Empfindungen, als der Gelsenkirchener Feuerwehrmann nach 17 Tagen wieder die Augen öffnet. Und da ist wieder diese bohrende Panik. Sprechen kann er nicht wegen des Luftröhrenschnittes, sich bewegen schon gar nicht. Der Kopf will, die Muskulatur streikt beharrlich.

Chaos im Kopf: Christian Kanisius fehlt die Erinnerung, das Zeitgefühl auch

Vier Tage später holt der 41-jährige Marler erstmals wieder ohne fremde Hilfe Luft, der Physiotherapeut hilft ihm beim Aufrichten. „Das Schlimmste ist das Chaos im Kopf und die lange Zeit der Isolation“, sagt Christian Kanisius. Das Erinnerungsvermögen sei nur bruchstückhaft gewesen, und das über sehr lange Zeit. Besuch von Frau und Kindern darf er auch nicht empfangen – da wird selbst ein Eisenmann, der mühelos Zentnerlasten bewegt, wachsweich.

„Gedanklich war ich im Jahr 2012 gefangen“, schildert der Einsatzleiter sein mentales Durcheinander. Und von Zeitgefühl keine Spur. „Tage, Wochen, Geburtstage, wichtige Ereignisse wie die Hochzeit – alles einerlei. „Das nagt an einem, das zermürbt dich.“ Wären da nicht die Ärzte, Schwestern und Pfleger gewesen, die ihn immer wieder „beruhigt und aufgemuntert haben“. Das kommt alles wieder, trösteten sie ihn unentwegt – nur wann?

Alles auf Null: Feuermann muss mit 41 das Laufen erst wieder lernen

Ostern verlegt ihn das Krankenhaus auf eine normale Station, ein paar Tage später darf er nach Hause. „Doch nichts“, erzählt Christian Kanisius, ist mehr wie früher. Alles auf Null, er muss neu beginnen. Die Beine wollen nicht, Laufen übernimmt Technik statt Muskeln. Eine Wasserflasche aufzudrehen, treibt ihm, der ständig nach neuen sportlichen Herausforderungen gesucht hat, schon den Schweiß auf die Stirn. „Ich konnte mir nicht einmal mehr ein Brötchen schmieren, ohne mich zu schneiden“, sagt der Feuerwehrmann. Und nach zwanzig Minuten Spielen mit den Kindern braucht er jede Menge Schlaf. Die Reserven waren aufgebraucht, er wog da nur noch 78 Kilogramm.

„Nichts ist einfacher, als in dieser Situation in Depressionen zu verfallen“, gibt der 41-Jährige unumwunden zu. Mit Freund und Physiotherapeut Frank legt er Extraschichten ein, um wieder auf eigenen Beinen stehen zu können, vertraut auf professionelle Hilfe, um auch mental Stärke und Zuversicht zurückzugewinnen, setzt sich Ziele: Ende August soll es zurück zur Feuerwache I in Gelsenkirchen gehen.

Rückhalt von Familie, Freunden und Kollegen lindert bohrende Trübsal im Kopf

Bis dahin ist es aber noch ein quälend langer Weg. Was ihn trägt und nicht aufhören lässt, sich zurück ins Leben zu kämpfen, ist der immense Rückhalt von Familie, Freunden, Kollegen. In den dramatischen Tagen des Komas haben sie Kerzen an der Wache aufgestellt, später Grüße und aufmunternde Worte per Video geschickt, einen Fahrdienst eingerichtet, der ihn zur Physiotherapie bringt, dazu Telefonate mit der Referatsleitung der Feuerwehr, mit der Stadt. „Ein großartiges Gefühl“, sagt Kanisius, „wenn so viele Menschen hinter dir und für dich einstehen.“ Das gibt Auftrieb.

Im Juli beginnt die Reha in der Median-Klinik in Heiligendamm, spezialisiert auf Lungenkrankheiten. Die Krankenkasse kommt Kanisius bei der Wahl der Einrichtung entgegen, denn Anschlussheilbehandlungen unterliegen eng gefassten Regeln. Corona aber hebt vieles aus den Angeln.

Gelsenkirchener macht große Fortschritte während der Reha in Klinik an der Ostsee

Kraft tanken in der Reha, das ist jede Menge „Atemtraining und Atemgymnastik“, schildert der Familienvater seine Zeit an der Ostsee. Parallel dazu wird er auch psychotherapeutisch betreut, denn die Leistungskurve zeigt nicht sofort steil bergauf. „Mit dem Fahrrad an einer Kreuzung zu stehen, hat mich anfangs überfordert“, sagt Christian Kanisius. Der Verkehr rechts und links von ihm, das alles im Kopf einzuordnen, war noch zu viel. Oder Joggen. „Nach 300 Metern war zu Beginn erst einmal Schluss.“

Die intensive Betreuung in der Spezial-Klinik zeigt dennoch stetig Wirkung, Kraft und Kondition kehren zurück, auch der Kopf wird wieder klar, die bleierne Trübnis schwindet zudem. Die Rückkehr ins normale Leben scheint wieder in greifbarer Nähe. „Ich wusste da, ich bin endlich auf dem richtigen Weg“, schildert der Feuerwehrmann diesen so wichtigen Wendepunkt in seinem Leben.

Gelsenkirchener Betriebsärztin gibt grünes Licht für Rückkehr an die Feuerwache I

Kanisius quält sich wieder daheim weiter mit Extraschichten an Training und Therapie, aber es ist jetzt anders. Lust überwiegt statt Frust, der 41-Jährige hat wieder Fahrt aufgenommen. „Zwar musste ich mein Ziel vom Wiedereinstieg ins Berufsleben nach hinten verschieben, aber das war nicht schlimm“, schildert Christian Kanisius seine Gefühlslage. Denn Energie und Motivation befeuern sich fortan gegenseitig.

Ende August gibt auch die Betriebsärztin grünes Licht, Christian Kanisius streift die Uniform der Lebensretter wieder über. Er kann wieder mit dem Rad zur Arbeit fahren (Marl-Gelsenkirchen!)„Ein erhebendes Gefühl nach einer gefühlten Ewigkeit“, sagt er. Aber ist er wieder der Alte? „Ja“, sagt der Marler ernst, „aber der Blick aufs Leben hat sich verändert.“ Und zwar wesentlich. Inwiefern? „Kleine Dinge werden plötzlich ganz groß, Karriere, Wohlstand – das wird alles nebensächlich“, sagt der 41-Jährige. „Es würde mir das Herz brechen, die Einschulung meines Sohnes zu verpassen.“