Oberhausen. Das gegliederte Schulsystem sortiert nach der Erprobungsstufe Schüler aus. Die Gesamtschulen wehren sich dagegen, als Reparaturbetrieb zu gelten.
Unter der Überschrift „Eltern sorgen sich um den Wert der Realschulen“ berichteten wir über den Protest von Schulpflegschaften gegen die Anwendung des Paragrafen 132c an den Oberhausener Realschulen: Seit diesem Schuljahr können Schüler ab der siebten Klasse an den Realschulen auch Hauptschulabschlüsse machen. Diese Regelung gilt befristet bis Ende Juli 2022.
Auf den Bericht reagiert Doris Sawallich, Leiterin der Gesamtschule Weierheide und Sprecherin der vier Oberhausener Gesamtschulen, mit einer Stellungnahme, die wir im Folgenden ungekürzt veröffentlichen:
Welches Menschenbild?
„Ich möchte sowohl zu der in dem Artikel geäußerten Sorge der Realschulpflegschaften um die Wertigkeit der Realschulen als auch zu der wiederholt geäußerten Erwartungshaltung hinsichtlich des Bildungsauftrags der Gesamtschulen Stellung beziehen. Als Leiterin einer Gesamtschule ist es mir ein Anliegen, den Umgang der Realschulpflegschaften mit der Schulform Gesamtschule, aber insbesondere den Umgang mit leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern der eigenen Schulen deutlich zu hinterfragen. Welches Menschenbild verbindet sich mit der Vorstellung, dass die Wertigkeit einer Schule von der Beschulung leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler abhängig gemacht wird? Wie müssen die Familien, die zu den unmittelbar betroffenen zählen, diese Ablehnung empfinden?
Risiko Schulformwechsel
Sie müssen nicht nur damit umgehen, dass sich die eigenen Erwartungen nicht erfüllt haben, sie müssen darüber hinaus eine deutliche Ausgrenzung erfahren. Nun sieht das gegliederte System das Verfahren des Schulformwechsels vor und jeder, der sein Kind an einer Realschule oder einem Gymnasium anmeldet, nimmt dieses Risiko in Kauf. Seit der Schließung der Hauptschulen in Oberhausen wird die durch die Versorgungslücke entstandene Stigmatisierung dieser Kinder jedoch auf die Spitze getrieben. Der lautstarke Protest der Realschulpflegschaften vor Beginn einer Schulausschusssitzung im April des letzten Jahres beinhaltete bereits Aussagen, die die Gesamtschulen für die Beschulung der Hauptschüler als zuständig erklärten.
Alle Kinder willkommen
Hiermit wird versucht, das integrierte System der Gesamtschulen für die Problemlösung des gegliederten Systems heranzuziehen. Völlig richtig ist dabei die Beobachtung, dass uns alle Kinder willkommen sind. Das System der Gesamtschule basiert jedoch auf der Grundlage der Heterogenität. So bildet unsere Schülerschaft auch die Heterogenität der Gesellschaft ab. ‘Zum Glück sind wir nicht alle gleich’ ist nicht nur ein geflügeltes Wort. Durch die Vielfalt eröffnet sich immer auch die Möglichkeit, voneinander zu lernen. Nicht das Prinzip der Bestenauslese ist unser Anliegen, sondern die Förderung aller Kinder, die uns anvertraut wurden. Die enge Begleitung der Schülerinnen und Schüler bis zu dem für sie erreichbaren bestmöglichen Schulabschluss ist unser Grundsatz. Häufig genug müssen auch leistungsstärkere Kinder phasenweise enger begleitet werden, weil es auch zur gesellschaftlichen Realität gehört, dass Familien schwierige Phasen durchleben oder zerbrechen.
Schulplätze bleiben besetzt
Dennoch wird an der Schulform Gesamtschule kein Kind ‘das Klassenziel nicht erreichen’ oder gar die Schule wechseln müssen. In der Konsequenz führen all diese Aspekte dazu, dass an den Gesamtschulen einmal vergebene Schulplätze besetzt bleiben und keine Freiplätze entstehen. Wir sind stolz darauf, dass die Kolleginnen und Kollegen unserer Schulen einen großen Teil unserer Schülerinnen und Schüler erfolgreich zum Abitur führen. In den Zeiten des Zentralabiturs kann man auch nicht mehr behaupten, dass das Abitur der Gesamtschule ein leichter zu erreichendes sei. Wir sind ebenso stolz darauf, Schülerinnen und Schüler zu guten Hauptschulabschlüssen zu führen und zu beobachten, dass sie im Leben ihren Mann oder ihre Frau stehen. Das integrierte System der Gesamtschulen bewährt sich täglich neu. Wir wehren uns jedoch dagegen, zunehmend zur Lösung der Probleme des gegliederten Systems herangezogen zu werden.“
Keine Hauptschulen mehr
Im Sommer 2018 hat mit der Hauptschule Alstaden die letzte Oberhausener Hauptschule geschlossen. Zu Hochzeiten gab es in der Stadt rund 15 Hauptschulen, zuletzt nur noch die Albert-Schweitzer-Schule, die St.-Michael-Hauptschule und eben die HS Alstaden, die noch die Zehnerjahrgänge der beiden anderen Schulen nach deren Schließung aufgenommen hat. Der Oberhausener Rat hatte beschlossen, die Schulform „auslaufen“ zu lassen: Das heißt, es wurden keine neuen Schüler mehr in den Jahrgang fünf aufgenommen. Grund für den Beschluss waren die rückläufigen Anmeldezahlen an den Hauptschulen, die Politik sah sich wegen der „Abstimmung mit den Füßen“ zu dem Schritt gezwungen.
Seit einigen Jahren ist die hohe Zahl der Schulformwechsler, also der Schüler, die nach der Erprobungsstufe von den Gymnasien und Realschulen runter und auf eine andere Schule gehen müssen, ein Thema, für das die lokale Schulpolitik eine Lösung finden muss. Denn es fehlen ab Jahrgang sieben die Schulplätze an den vier Gesamtschulen, um alle Schulformwechsler aufzunehmen. Um eine Entlastung zu schaffen und Schülern ein Verbleiben an ihrer Realschule zu ermöglichen, hatte der Rat beschlossen, Hauptschulabschlüsse nach Paragraf 132c an Realschulen möglich zu machen, die Bezirksregierung hatte dies im Sommer 2019 genehmigt. Aktuell werden laut Auskunft der Schulverwaltung an der Friedrich-Ebert-Realschule zwei Kinder und an der Anne-Frank-Realschule sechs Kinder im Rahmen des Paragraf 132c beschult. An der Theodor-Heuss-Realschule wird derzeit kein Kind mit dem Ziel einen Hauptschulabschluss zu machen unterrichtet.