Oberhausen. Der Erzieher Tim Pickartz aus Oberhausen schreibt an die NRW-Schulministerin. Sein Vorwurf: Der Geschichts- und Sozialkundeunterricht ende inhaltlich mit dem Zweiten Weltkrieg. Ein Thema wie der Nahost-Konflikt würde kaum behandelt. Er sorgt sich um antisemitische Tendenzen bei Jugendlichen.

Der Oberhausener Tim Pickartz hat sich hingesetzt und einen Offenen Brief an NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann geschrieben. Der 30-jährige Erzieher, der unter anderem die Hausaufgabenhilfe im Jugendclub Courage anbietet, hat aus seiner Sicht ein Versäumnis an den Schulen ausgemacht.

Sein Vorwurf: Der Geschichts- und Sozialkundeunterricht ende inhaltlich mit dem Zweiten Weltkrieg. Ein so wichtiges Thema wie die Geschichte Israels und der damit verbundene Nahost-Konflikt würde nicht oder kaum behandelt. So die Erfahrung von Pickartz im Umgang mit den von ihm betreuten Schülern, „die meist der muslimischen Community angehören“, schreibt der Erzieher. Das Thema sei aber, so Pickartz, ungeheuer präsent bei den Jugendlichen, unter denen Gerüchte, Nicht-Wissen und Halbwahrheiten kursierten, denen der Unterricht an allen Schulformen zu wenig entgegensetze. Das sei ein Nährboden für antisemitische und radikale Tendenzen, für Vorurteile und Hass.

„Antisemitismus ist Teil der Erziehung in manchen muslimischen Familien“

Im Brief von Tim Pickartz heißt es: „Ich würde soweit gehen, dass der Nahost-Konflikt eine ewig offene und klaffende Wunde in der gesamten islamischen Welt darstellt und sich nicht nur in Deutschland die Muslime verbunden fühlen mit dem Schicksal der Menschen im Nahen Osten. Dass sich diese Verbundenheit nicht ausschließlich aus historischen und relativ neutralen Fakten speist, ist genauso eine Realität wie die Tatsache, dass in manchen Teilen der muslimischen Community sehr wohl das Problem des Antisemitismus als Folge dessen entstehen kann.“

Anknüpfungspunkte in den Kernlehrplänen

„Die kompetenzorientierten Kernlehrpläne in NRW geben nicht vor, anhand welcher konkretisierten Themen Kompetenzen erworben werden“, heißt es aus dem Schulministerium. „Die konkretisierte Umsetzung des Kernlehrplans liegt somit in Verantwortung der Lehrer.“ Anknüpfungspunkte für den „Nahost-Konflikt“ bieten sich laut
Ministerium in allen Schul-
formen in den

Fächern Gesellschaftslehre (Sek. I, Gesamtschule, Hauptschule), Politik/Wirtschaft (Sek I, Gymnasium), Politik (Realschule) und Sozialwissenschaften (Gymnasiale Oberstufe). Unterrichtsmaterialien zum Thema finden sich auf der Bildungssuchmaschine learnline.schulministerium.nrw.de.

Pickartz zitiert die Internetseite des Ministeriums: „Dort wird angeführt, dass ‘es bei der interkulturellen Schul- und Unterrichtsentwicklung um einen veränderten Blick der Institution Schule sowie der in ihr verantwortlich Handelnden auf die durch Migrationsprozesse veränderte gesellschaftliche Realität’ geht.“

Und weiter: „[...] Natürlich distanzieren sich die großen muslimischen Verbände in Deutschland vom Antisemitismus, was richtig und aussagekräftig ist. Doch wie sieht die Realität in den betroffenen Familien selber aus?“, fragt Tim Pickartz und er zitiert den palästinensisch-israelischen Psychologen und Autor Ahmad Mansour: „Antisemitismus ist Teil der Erziehung in manchen muslimischen Familien – auch in Deutschland. Über Generationen hinweg wird den Kindern in diesen Familien das Gefühl vermittelt, überall auf der Welt würden Muslime unterdrückt. Schuld daran sei ‘der Jude’.“

Unsinniger Vorwurf

Tim Pickartz kommt in seinem Brief zu dem Schluss: „Des Weiteren müssen wir uns auch im Klaren darüber sein, dass Antisemitismus und radikale Weltbilder nicht allein ein Problem der muslimischen Community darstellen, sondern allgegenwärtig in allen Bevölkerungsschichten und Ethnien wiederzufinden sind. Fakt ist, dass wir uns mehr damit beschäftigen, radikale IS-Kämpfer nach ihrer Rückkehr nach Deutschland zu überwachen, statt präventiv zentrale Punkte wie den Nahost-Konflikt an deutschen Schulen aufzuarbeiten.“

Den Vorwurf von Tim Pickartz findet Brigitte Fontein, Leiterin des Elsa-Brändström-Gymnasiums, nicht völlig unbegründet. „Den Nahost-Konflikt in den vollgepackten Lehrplänen unterzubringen ist schwierig, das ist vielfach ein Zeitproblem“, sagt Fontein, die aber weiß, dass ihre Kollegen bei tagesaktuellen Ereignissen das Thema auf die Tagesordnung heben. Als „unsinnig“ weist Hermann Dietsch, Leiter der Gesamtschule Weierheide, die Kritik des Pädagogen zurück. „Im Fach Sozialwissenschaften in der Oberstufe werden internationale Beziehungen und Konflikte behandelt und dann geht es auch um diese Region“, sagt Weierheide-Lehrer Muhammed Giraz. Auch in der Mittelstufe komme das Thema vor. „Die Debatten der Schüler dazu sind häufig sehr kontrovers und hitzig, aber das liegt in der Natur des Faches.“ Giraz empfindet die Diskussionen dennoch als sachlich.