Wie das Unwetter ein Mülheimer Wohnviertel verändert hat
•
Lesezeit: 7 Minuten
Mülheim-Holthausen. . In stattliche Alleen hat das Unwetter von Pfingstmontag tiefe Wunden geschlagen und an Haus und Hof hat es immense Schäden angerichtet. Zudem hat der Sturm die Menschen arg in Mitleidenschaft gezogen. Bewohner des Kahlenbergviertels erzählen von ihren Ängsten. Viele schwärmen von ungeahnter Solidarität.
Der Megasturm begann für mich mit bangen Blicken aus dem Fenster – und einem Klingeln an der Wohnungstür. Die Nachbarn aus der ersten Etage fragten, ob wir noch nicht bemerkt hätten, dass die große, alte Linde umgestürzt sei, und uns nun im Haus einsperre? Wahrhaftig: Der mächtige Baum war gefallen. Zwar nicht aufs Haus, doch auf den Weg zur Haustür und die Garage daneben. Blätter und Äste versperren seitdem zwei Etagen hoch den Ausgang, und mittendrin baumeln Teile der komplett zerstörten Oberleitung der Tram-Linie 110.
Es sind Geschichten wie diese – und oft noch schlimmere –, die seit dem verheerenden Sturm an Pfingstmontag die Runde in Mülheim machen. Leute stehen auf der Straße, begutachten Schäden, greifen zur Säge, räumen das Gröbste zur Seite und versuchen, den Schrecken in Worte zu fassen – das zeigt sich etwa beim Rundgang durchs Kahlenbergviertel. „Einem Viertel“, so Bewohner Thomas Altrath (43), „das von seinen alten Bäumen lebt.“ Etliche grüne Riesen aber haben den Böen nicht standgehalten. „Da es kaum jemanden geben wird, der so viele Bäume ersetzt, wird sich das Gesicht des Viertels verändern“, fürchtet er.
Eine Linde krachte auf das Haus
Nicht nur Bäume liegen darnieder, auch Häuser, Gärten und Autos erlitten Schäden. So krachte Familie Altrath, die an der Leonhard-Stinnes-Straße wohnt, eine Linde aufs Dach; Vergleichbares widerfuhr Familien an Dimbeck, Jahnstraße, Kluse. . . In stattliche Alleen hat der Sturm tiefe Wunden geschlagen. Am Morgen danach laufen die Menschen durch die Straßen und versuchen zu verstehen: Was bloß ist uns da passiert?
Unwetter über Mülheim
1/71
Gabriele Steenken, eine ältere Dame aus der Roeschstraße, erlebte das große Brausen „in riesiger Angst“. Sie war allein zu Haus und die Telefonverbindung gestört. Dass Blitz und Donner nahezu zeitgleich auftraten, war fürchterlich, „und dann fielen auch noch zwei Fichten mit großem Krach um“. Mächtig Angst hatte auch Anya Enning (50) von der Jahnstraße, die nun vor allem froh ist, dass Haus und Töchter unversehrt blieben. Nebenan sei die Sache weniger glimpflich verlaufen, „und weil sich da gar nichts mehr tat, haben wir nachgeguckt, was mit der Bewohnerin ist“. Alles war gut, zum Glück. Dass sich Menschen in Notsituationen wie dieser zusammentun, gefällt Enning: „Hier standen nach dem Sturm plötzlich viele auf der Straße und haben sich Beistand geleistet – das war tröstlich.“
Das Wasser stand bis zu den Knien
Ähnlich hat es Arnd Hasenbeck empfunden: „So viele habe ich noch nie auf der Straße gesehen.“ Für Nachbarin Sandra (44) war die Solidarität auch ein Aha-Erlebnis: „Man fühlte da mit einem Mal so eine Gemeinschaft.“ Bei Hasenbecks gingen Fenster zu Bruch, wurde das Dach in Mitleidenschaft gezogen. Dachdecker Reinhard Czeczatka (54) bessert es bereits am Dienstagfrüh aus und lässt wissen, er sei vorbereitet auf anstrengende Tage. „Dabei muss ich mich auch noch ums eigene Haus kümmern.“ Bei ihm, in Saarn, stand das Wasser knietief.
Bei Bollmanns an der Ludwig-Wolker-Straße erging’s dem Trompetenbaum schlecht, „und schon das hat mir Tränen in die Augen getrieben“, sagt Mutter Silvia (51). Was sie nun allerdings beim Erkunden anderer Leuts Sturmschäden sieht, mache sie fassungslos. Tochter Madeleine (23) glaubt, dass sich die Erde an den Menschen rächt, „und dass das noch schlimmer werden wird“.
„Da kann man nichts machen, das muss die Versicherung regeln“
Der BMW von Nicola Slominsky ist kaputt, da gibt’s keinen Zweifel, auch wenn er noch unter einem Baum begraben ist. Die 53-Jährige bleibt locker: „Da kann man nichts machen, das muss die Versicherung regeln.“ Vor Donnerstag aber habe kein Sachbearbeiter Zeit. Slominsky fühlte sich während des Sturms „wie im Thriller, ich hatte richtig Panik“.
Gelitten hat der Sportplatz an der Lemkestraße: Die Diskusanlage ist ruiniert und auch die Bäume rundum sehen verheerend aus. Eine Anwohnerin (74) fegt Blätter und macht sich Gedanken, weil sie am Sturmabend einen Hilfesuchenden abgewiesen habe. „Der junge Mann wollte telefonieren, aber ich hatte Angst, ihn ins Haus zu lassen.“ Nun quäle sie ein schlechtes Gewissen – „hoffentlich geht es ihm gut“.
Der Wind trug das Dach davon
Monika Boer (55) ist schockiert über das Ausmaß der Zerstörung an der Bismarckstraße: „Ich habe ja keinen Krieg mitgemacht, aber was die Bäume betrifft, stelle ich mir das in etwa so vor.“ Schockiert habe sie zudem ein Unfall am Morgen, bei dem sich ein Feuerwehrmann an der defekten Oberleitung der 110 verletzt habe.
Die herumliegenden Kabel sind Thema auch für Joggerin Henriette Bloch, „man weiß ja nicht, ob die noch gefährlich sind“. Die 18-Jährige fürchtet zudem, dass im ebenfalls übel zugerichteten Park an der Kluse kaum eine Ente am Teich überlebt haben könnte. Und auch Karin Hansen und Bianca Schott steckt der Schreck noch in den Knochen: Hansen stand am Fenster, als die Welt auf dem Kahlenberg vorübergehend aus den Fugen geriet und eine Birke an der Stiftstraße fiel: „Wenn Sie sehen, wie so ein Baum auf Sie zukommt. . . Ich habe da nur noch geschrien.“ Bianca Schott denkt noch immer daran, wie es war, als das Dach ihres Hauses an der Kampstraße abgetragen wurde. Der Regen prasselte in die Wohnung und die dreifache Mutter (35) empfand Hilflosigkeit: „Einfach abwarten zu müssen, um zu sehen was kommt, das macht Angst.“
Nicht alle haben den Abend als Desaster erlebt
Nicht alle haben den Abend als Desaster erlebt: Jul, Nic und Leo, drei Jugendliche, hatte die Gewitterfront bei einer Party auf freiem Feld in Raadt überrascht, und schon kurz darauf haben sie sich gewandelt zu Katastrophentouristen: Per Handy erfuhren sie, wo’s Spannendes zu sehen gibt und waren auch am Dienstag wieder unterwegs: „Wir gucken alles an – der Hund muss ja sowieso raus.“ Anja Hoffmann (20) erzählt zudem diese nette Story: Der fiese Wind habe ihr die petrolfarbene Melone gemopst, die sie sich Tags zuvor bei Rock am Ring gekauft habe. „Nachts um eins kam dann meine Mutter und sagte: Schau, ich habe den Hut beim Nachbarn gefunden.“
Sie haben vermutlich einen Ad-Blocker aktiviert. Aus diesem Grund können die Funktionen des Podcast-Players eingeschränkt sein. Bitte deaktivieren Sie den Ad-Blocker,
um den Podcast hören zu können.