Mülheim. Für viele ältere Beschäftigte scheint die Rente mit 63 interessant, aber was passiert in den Betrieben? Fallen plötzlich viele wichtige Fachkräfte weg? Noch sind viele Fragen offen. Und viele Experten sind sich nicht einig über die möglichen Auswirkungen der geplanten Rentenregelungen.
Bei der geplanten Rente mit 63 richten sich derzeit alle gespannten Blicke nach Berlin. Alle warten auf die konkreten Inhalte: die älteren Arbeitnehmer, um endlich zu wissen, ob sie die notwendige Zeit für einen vorgezogenen Ruhestand zusammen haben; die Betriebe, die um den Verlust kompetenter Mitarbeiter bangen müssen und all die anderen Versicherten, die sich fragen, wie dieses Geschenk der Großen Koalition bezahlt werden soll. Ein Gesetzesentwurf liegt vor, in dem unter anderem, anders als im Koalitionsvertrag, Kindererziehungszeiten berücksichtigt werden. Aber noch ringen CDU und SPD um die Lösung.
Wie viele Arbeitnehmer diese Regelung in der Stadt in Anspruch nehmen könnten, weiß niemand so genau. Nicht einmal der Rentenversicherungsträger, schon allein, weil hierfür nicht nur eine Stelle zuständig ist. Es frage inzwischen auch keiner mehr, sagt Pressesprecher Jochen Müller von der Rentenversicherung Rheinland. Nachfragen zu diesem Thema gibt es auch bei der Stadtverwaltung kaum noch.
Ein kapitaler Fehler
Das war nach dem Beschluss des Koalitionsvertrages noch anders. „Die Details sind noch ein Riesenproblem“, ahnt Richard Enthofer vom städtischen Personalservice. Vor allem gehe es darum, wie Arbeitslosenzeiten berücksichtigt werden. Können Beschäftigte schon mit 61 über eine Vorruhestandsregelung ausscheiden oder nicht? Wie viele der 2500 tariflich gebundenen Mitarbeiter von der Rente mit 63 profitieren könnten, vermag Enthofer nicht abzuschätzen, da die Erwerbs-Vorgeschichten vieler Beschäftigten unbekannt seien. Immerhin kann er sagen, dass 120 Beschäftigte über 60 sind. Hinzu kommen aber noch die städtischen Töchter.
Siemens mit über 5000 Mitarbeiter möchte sich noch nicht konkret äußern. „Solange noch Fragen offen sind, wäre das Spekulation“, sagt Sprecher Georg Lohmann. Sobald das Gesetz vorliegt, werde man sich fragen, „was das für die Personalbeschaffung bedeutet.“
Die Wirtschaft hat schon frühzeitig die mahnende Stimme erhoben. So bezeichnete der Hauptgeschäftsführer des Unternehmerverbands, Wolfgang Schmitz, die Rente mit 63 als „kapitalen Fehler“, der zulasten der jungen Generation gehe. Die Erhöhung des Renteneintrittsalter auf 67 sei eine richtige Antwort auf den dem demographischen Wandel. „Angesichts des immer größer werdenden Fachkräftemangels ist eine frühere Verrentung das Gegenteil von dem, was wir brauchen“, so Schmitz. Auch die IHK hebt den warnenden Finger, wenn es um Fachkräfte geht.
Die Situation spitzt sich zu
Betroffen könnten gerade Handwerksbetriebe sein. „Viele Betriebe haben nur fünf Mitarbeiter, wenn hier unerwartet jemand abspringt, kann es zu Problemen führen“, weiß die Geschäftsführerin des Kreisverbands, Barbara Pezzei. „Es mag ja sein, dass Menschen Hobbys haben, aber wer zum Teufel soll das bezahlen?“ Die Lage werde sich erst richtig zuspitzen, wenn ab 2020 die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, ist sie sich sicher.
Gerade im Handwerk dürfte es viele Anspruchsberechtigte geben, da Unzählige mit 15, 16 Jahren in den Beruf eingestiegen sind. Dramatisch sieht sie die Lage im Moment allerdings noch nicht. „Die meisten Betriebe sind nicht überaltert und haben in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebildet“. Der Facharbeitermangel macht sich aber bemerkbar. „Es wird schwieriger, gutes Personal zu finden. Das geht nicht mehr auf ein Fingerschnippen.“
Tiefe Verbundenheit
Aus den Branchen Elektro, Sanitär und Metall hat sie bei den Innungsversammlungen jüngst von Schwierigkeiten gehört. In anderen Branchen dürfte es ähnlich sein. Doch Betriebe sprechen nur sehr ungern über ihre Probleme. Joachim Schweins von Elektro Folkenborn bestätigt zwar, dass die Personalsuche schwieriger geworden sei, sieht aber durch die Rentenregelung noch keine Verschärfung.
„Handwerk ist ein Knochenjob. Viele wechseln schon vorher in einen Großbetrieb, um kürzer zu treten.“ Er ist sich aber sicher, dass durch viele Jahre in einem Betrieb eine Verbundenheit entsteht. „Dann lässt keiner den Chef hängen und geht plötzlich zwei Jahre eher als geplant.“ Ob die Mitarbeiter nicht dann auch mal an sich denken? „Ja, schon“, räumt er ein. „Aber man findet dann eine Lösung und der Mitarbeiter bleibt wenigstens ein paar Monate länger, bis die Stelle wieder besetzt ist.“