Mülheim. Der Mülheimer Alexander Wiegand schmuggelte in den 60er-Jahren als Lkw-Fahrer über 120 Flüchtlinge von Ost nach West. Dies brachte ihm eine Stasi-Akte und vier Jahre Gefängnis in Tschechien ein. Mit einem der ehemaligen Wachmännern führt er heute eine enge Freundschaft.
Das Leben hat Alexander Wiegand mächtig durchgerüttelt. Der heute 72-jährige Mülheimer war auch immer risikofreudig unterwegs. Zwischen 1963 und 1972 schmuggelte er als Lkw-Fahrer über 120 Flüchtlinge von Ost nach West, was ihm eine dicke Stasi-Akte (Deckname „Kur“) eintrug und vier harte Jahre in tschechischen Gefängnissen, darunter 395 Tage in Dunkelhaft. Mit einem früheren Wachmann, dem etwa gleichaltrigen Oldrich Prasil, verbindet ihn heute aber eine enge Freundschaft – und eine bewegende Weihnachtsgeschichte...
Sie haben Oldrich, der in der Slowakei lebt, kürzlich besucht. Wann hatten Sie sich zuletzt gesehen?
Alexander Wiegand: An Weihnachten 1975. Ich war damals in ein Militär-Krankenhaus in Böhmen verlegt worden und wollte unbedingt fliehen. An Heiligabend lag ich alleine im Lazarett, meine ganze rechte Seite war gelähmt. Plötzlich ging die Tür auf, und ein Mensch kam herein: Oldrich, der als Wachmann Dienst hatte. Er stellte eine Kerze auf, brachte mir einen Apfel und sagte: „Auch für dich wird die Sonne wieder scheinen.“
Wie ging die Geschichte weiter?
Wiegand: Am ersten Weihnachtstag habe ich ihm 300 D-Mark gegeben und einen Brief an die Deutsche Botschaft in Prag, in dem ich um Hilfe bat: Mir stand eine lebensgefährliche Operation bevor, und ich wollte meine Familie noch einmal sehen. Oldrich hat diesen Brief persönlich hingebracht, obwohl es sehr riskant für ihn war. Am 1. September 1976 wurde ich endlich entlassen. Am Flughafen in Rosin begrüßte mich der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Er sagte: „Sie sind ein freier Mann.“
Über Facebook wiedergefunden
Warum hat Oldrich Ihnen, einem unbekannten Häftling, geholfen?
Wiegand: Ich habe ihn später gefragt. Er sagte, er habe meine Geschichte verfolgt und war beeindruckt, weil ich niemanden verraten hatte. Danach verloren wir uns aus den Augen.
Wie fanden Sie sich wieder?
Wiegand: Ich besaß damals noch ein Bild von meinen kleinen Kindern, das habe ihm ihm geschenkt und meine frühere Adresse in Solingen drauf geschrieben. Er hat mich offenbar jahrzehntelang gesucht und irgendwann über Facebook ermittelt.
Ihr erstes Wiedersehen jetzt: Wie war das? Hatten Sie sich überhaupt etwas zu sagen?
Wiegand: Ja. Ich habe vier Tage in seinem Haus in Banská Bystrica gewohnt, und er hat mir seine Heimat gezeigt. Verständigt haben wir uns auch mit Hilfe eines Übersetzungsprogramms in seinem Computer. Es war sehr herzlich. Oldrich ist ein echter Freund.
Zwei längst erwachsene Kinder hat Alexander Wiegand, ist auch schon Opa, gründete aber später erneut eine Familie mit seiner aus Weißrussland stammenden Frau Ludmilla. So ist der 72-Jährige nun Vater eines siebenjährigen Mädchens und eines vierjährigen Jungen.
Gemeinsames Weihnachten über Skype
Wie feiern Sie Weihnachten 2013?
Wiegand: Besinnlich. Am Heiligen Abend besuchen wir meinen Sohn, der mit seiner Familie in Solingen lebt. Um 17 Uhr gehen wir in die Kirche, anschließend gibt es Geschenke für die Kinder. Wenn die im Bett sind, am späten Abend, werden wir Erwachsenen essen und über Skype mit Oldrich gemeinsam Weihnachten feiern. Eigentlich wollte ich ihn mit meiner Frau und meinen Kindern besuchen...
Aber?
Wiegand: Wir können nicht hinfahren, er hat uns abgeraten. Dort in der Slowakei liegt im Moment zu viel Schnee.
Sie sind 1940 in Solingen geboren. Welche Weihnachtserinnerungen haben Sie an Ihre eigene Kindheit?
Wiegand: Es war schrecklich. Alles war zerstört. Wir hatten nichts zu essen, es gab keine Weihnachtsgeschenke. Mein Vater hatte eine Spedition, und in unserer Garage wohnten nach dem Krieg Amerikaner. Ich kann mich erinnern, dass sie mir gelegentlich Schokolade geschenkt oder einen Teller Suppe gekocht haben. Aber ansonsten war meine Kindheit schlimm.
Haben Sie ihren kleinen Kindern schon etwas aus Ihrem bewegten Leben erzählt?
Wiegand: Nein, noch nicht. Das muss man langsam aufbauen. Sie wissen aber schon, dass man armen Kindern helfen soll, und haben gerade erst wieder eine Menge Spielsachen aussortiert, zum Verschenken.
Wann werden Ihre Memoiren erscheinen?
Wiegand: Ich weiß noch nicht. Schreiben würde ich sie gerne.