Mülheim. Trotz stabiler Beschäftigungs- und Wirtschaftslage wächst auch in Mülheim die Zahl der Langzeitarbeitslosen: Könnte ihnen ein zweiter Arbeitsmarkt helfen?
Ein Land, zwei Welten. Das Statistische Bundesamt meldet einen Rekordstand von über 42 Millionen Beschäftigten (+ 0,6 Prozent) und Rekordsteuereinnahmen von 39 Milliarden Euro (+ 3,7 Prozent). Gleichzeitig weisen die Wohlfahrtsverbände in ihrem ersten Arbeitslosenreport für NRW darauf hin, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen an Rhein und Ruhr seit 2009 um 25 Prozent auf jetzt 323.000 angestiegen ist.
Auch in Mülheim ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen angestiegen. Doch den Vorwurf der Wohlfahrtsverbände, die Agenturen und Jobcenter hätten die Langzeitarbeitslosen nicht ausreichend im Blick und kümmerten sich vor allem um leichter zu vermittelnde Arbeitssuchende, lässt die stellvertretende Leiterin der Sozialagentur, Jennifer Neubauer, für Mülheim nicht gelten und verweist in diesem Zusammenhang auf aktuelle Vermittlungsquoten von über 20 Prozent.
Lohnkostenzuschüsse nur noch auf zwei Jahre befristet
Mit Hilfe der allerdings in den vergangenen Jahren reduzierten Fördermittel des Bundes und der Europäischen Union finanziert die Sozialagentur Umschulungen oder Ausbildungsmaßnahmen, wie zum Beispiel ein Einstiegs-und Qualifizierungsjahr für junge Arbeitssuchende unter 25 Jahren oder Lohnkostenzuschüsse von bis zu 75 Prozent, um Langzeitarbeitslose aus dem Arbeitslosengeld II heraus und in den ersten Arbeitsmarkt hinein zu bringen.
Allerdings werden die Lohnkostenzuschüsse inzwischen nur noch auf zwei Jahre befristet und kommen aktuell auch nur knapp 90 Personen zugute. 525 Personen nehmen dagegen eine von der Sozialagentur finanzierte Arbeitsgelegenheit wahr. Das bedeutet: Neben ihrem Arbeitslosengeld II bekommen sie 1,30 pro Stunde dafür, dass sie zum Beispiel Senioren betreuen, Grünflächen pflegen, Schulhöfe betreuen oder hauswirtschaftliche und handwerkliche Hilfstätigkeit ausführen.
Menschen nach langer Arbeitslosigkeit wieder aktivieren
Bei diesen auf maximal 12 Monate befristeten Arbeitsgelegenheiten geht es für Neubauer aber weniger darum, Vermittlungschancen zu erhöhen, als viel mehr darum, Menschen nach langer Arbeitslosigkeit wieder zu aktivieren und sie dazu zu motivieren, eine Tagesstruktur zu entwickeln. Doch immerhin jeder zehnte Teilnehmer finde nach der Arbeitsgelegenheit eine weiterführende Beschäftigung. Neubauer kennt die Handicaps, die aus arbeitssuchenden Menschen Langzeitarbeitslose machen: Krankheit, Alter, fehlende oder veraltete Qualifikation, soziale und familiäre Probleme, fehlende Kinderbetreuung.
Auch wenn sie mit Steuergeldern geförderte Beschäftigung im Einzelfall als Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt erlebt, sieht sie darin, ebenso wie der Sprecher der Mülheimer Unternehmer, Hanns Peter Wintfeder keine flächendeckende Lösung. „Ich glaube nicht, dass Arbeitsmarktpolitik das mit dem Auf und Ab der wirtschaftlichen Dynamik zusammenhängende Problem der Arbeitslosigkeit lösen kann. Ein zweiter oder sozialer Arbeitsmarkt wäre gesellschaftlich nicht zu finanzieren“, sagt Neubauer.
"Für viele Menschen ist der Arbeitsmarkt verschlossen"
Das sieht der Geschäftsführer des Diakoniewerkes Arbeit und Kultur, Ulrich Schreyer, anders. „Wir haben in Deutschland einen Sockel von drei Millionen Arbeitslosen, an denen jedes Wirtschaftswachstum vorbeigeht. Für viele Menschen ist der Arbeitsmarkt verschlossen, weil ihre Möglichkeiten und die Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht zusammenpassen und die soziale Schere immer weiter auseinandergeht“, erklärt er das Problem.
Die Ignoranz und Tatenlosigkeit, die er derzeit in der Bundespolitik sieht, wenn es um die Langzeitarbeitslosen geht, empfindet Schreyer als menschenunwürdig. „Wir haben doch viele gesellschaftliche Bedarfe und es ist besser Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren“, plädiert der Chef des Diakoniewerkes, das 320 Menschen Arbeit gibt, für die Einrichtung eines sozialen und steuerfinanzierten Arbeitsmarktes.
Wolfgang Albrecht, der sich bei der Caritas um die Arbeitsgelegenheiten kümmert und Meinhard Rupieper vom Styrumer Treff für aktive Arbeitssuchende unterstützen Schreyers Position. „Mit der Situation, wie sie jetzt ist, können wir uns nicht abfinden. Wir sollten mit dem Grundrecht auf Arbeit und Lohn einen sozialen Arbeitsmarkt und damit Projekte fördern, die unserer Gesellschaft zugute kommen können“, meint Rupieper. „Es gibt zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit und Beschäftigungsförderung derzeit keine große Idee. Das hat die Politik aus dem Blick verloren“, bedauert Albrecht.