Mülheim. Wer einen Angehörigen pflegen will, soll demnächst bezahlten Sonderurlaub bekommen. Union und SPD einigten sich darauf, dass Arbeitnehmer sich einmalig zehn Tage lang eine Auszeit nehmen dürfen. Im Evangelischen Krankenhaus in Mülheim können sich pflegende Angehörige kostenlos schulen lassen.
Der ältere Mensch ist kein Pflegefall und wird doch zu einem. Warum? Weil es praktischer ist - für den Arzt, für die Krankenkasse und auch für das soziale Umfeld. Ein Beispiel: Die 85-jährige Dame lebt allein und führt ihren Haushalt. Doch dann stürzt sie. Mit einem Beinbruch kommt sie ins Krankenhaus. Irgendwann ist die medizinische Behandlung abgeschlossen. Allerdings alleine nach Hause kann die Patientin noch nicht, ist doch ihre Mobilität eingeschränkt. Vorerst kann sie noch nicht wieder ihren Haushalt allein führen wie bisher.
Kinder und andere Verwandte sind beruflich stark eingebunden, so dass sie nicht die Zeit haben, sich um die Seniorin in der Zeit zu kümmern, bis sie wieder selbstständig für sich sorgen kann. Kein seltener Fall, und immer öfter lautet die Lösung: Der Patient wird vom Krankenhaus ins Pflegeheim überwiesen - und zwar dann nicht nur für eine Übergangszeit, sondern für immer. Eine Tendenz, die die Statistik bestätigt: 2011 kam 60 Prozent der Neuzugänge in den deutschen Heimen direkt aus dem Krankenhaus. Vor zehn Jahren waren es gerade mal 20 Prozent.
Mülheimer Lösung
In Berlin beginnt man gerade an einer Lösung zu arbeiten - in Mülheim wurden schon vor mehreren Jahren Akzente gesetzt. Man zählt auf die Angehörigen. Union und SPD haben sich in ihren Koalitionsverhandlungen darauf geeinigt, dass künftig Arbeitnehmer den Rechtsanspruch haben sollen, einmal zehn Tage lang eine Auszeit nehmen zu können, um einen Angehörigen zu pflegen. Entscheidend dabei: der Lohn wird in dieser Phase weitergezahlt. Unklar ist zwar noch, ob diese zehn Tage Pflege-Urlaub jedes Jahr aufs Neue genommen werden dürfen. Aber dieser Schritt wäre zumindest eine Verbesserung im Vergleich zur bisherigen Lage.
Aber abgesehen davon: Angehörige wollen vielleicht pflegen - können sie es aber auch? Und hier gibt es tatsächlich eine Mülheimer Lösung: Das Evangelische Krankenhaus bietet schon seit 2006 Pflegekurse für Angehörige an - und zwar kostenlos.
„Wir waren damals Teil eines Pilotprojektes, das von der Universität Bielefeld durchgeführt worden ist. Von dieser wissenschaftlichen Begleitung haben wir sehr profitiert“, erinnert der Leiter des Pflegemanagements am EKM, Jörg Rebhun. Es wurden Konsequenzen gezogen.
Viele Konsequenzen
Die erste: Jeder Fall stellt sich anders dar. Deswegen muss die Vorbereitung der Angehörigen möglichst individuell erfolgen. Ein hoher Anspruch. Er wird aber vor Ort gut eingelöst, meint der Regionaldirektor der örtlichen AOK, Roland Angenvoort. Seine Krankenkasse war an der Konzeption dieses Angebots beteiligt. „Wir sind sehr daran interessiert, dass Lösungen gefunden werden, die zu dem einzelnen Fall passen. Das kann mal eine Kurzzeitpflege sein, dann eben eine Pflege durch Angehörige und manchmal eben auch tatsächlich das Pflegeheim.“
Die Kurse im EKM tragen dazu bei, dieses Ziel auch praktisch umsetzen zu können. Aber auch sonst hat Angenvoort nur Lob für die örtliche Struktur: „Es existiert eine gute Vernetzung in der Stadt. Zwischen den Kassen, den beiden Krankenhäusern und auch den Pflegediensten, die sich in der Stadt auch zu einem Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen haben. Solche guten Bedingungen gibt es wirklich nicht überall. “
Hohe Resonanz
Diese positive Entwicklung spiegelt sich auch in den Zahlen wider: Von den rund 5000 Senioren, die im letzten Jahr bei der Pflege- und Sozialberatung der EKM Rat gesucht haben, ist knapp die Hälfte in kein Pflegeheim gekommen. 2000 Personen besuchten nach dem Krankenhausaufenthalt eine Reha-Klinik. 300 wählten eine Kurzzeitpflege. Zu der letzten Gruppe zählen wohl auch die meisten Beispiele der Familienfälle. Ob die Zahl angesichts der neuen Gesetzessituation noch ansteigt, wird sich zeigen. Jörg Rebhun ist zumindest aktuell mit dem Interesse an dem Kursprogramm des EKM zufrieden: „Wir haben viele Teilnehmer und bekommen auch positive Rückmeldungen.“
Die Seminare erfreuen sich auch deswegen einer solchen Beliebtheit, weil sie Kontakte stiften: „Die Teilnehmer können sich untereinander austauschen und ihre Erfahrungen teilen“, beschreibt Jörg Rebhun. Ein wichtiger Aspekt, der letztlich auch zu einer Verbesserung der Qualität der Pflege beitragen werde.
Um diesen Effekt noch weiter auszubauen, gibt es mittlerweile eine regelmäßige monatliche Zusammenkunft. Vielleicht wird dieser Stammtisch ja bald Neuzuwächse bekommen, dann wenn die Pläne der Koalitionspartner tatsächlich Gesetz werden sollten.