Mülheim. .
Zwei Stunden Austausch mit Experten: Die Anhörung im Stadtrat soll der Politik am Donnerstag (17. Oktober, 17 Uhr, Ratssaal) eine Entscheidungshilfe sein in der Frage, ob die Stadt künftig besser auf Busse statt Straßenbahnen setzt. Vier externe Experten sind geladen, um ihre Standpunkte in öffentlicher Ratssitzung und vor 48 Bürgern mit Platzkarten auf den Zuschauertribünen sowie weiteren vor einem Fernseher im Foyer am Standesamt darzustellen. Anschließend können die Ratsmitglieder die Fachleute eine Stunde lang mit Fragen löchern.
Geladen als „Experten pro Schiene“ sind der Verkehrswissenschaftler Prof. Heiner Monheim (Trier) und Prof. Rainer Meyfahrt, ehemaliger Chefplaner der Kasseler Verkehrsgesellschaft. Den Gegenpart übernehmen Bürgerinitiativler Maximilian Slawinski, der in Aachen erfolgreich gegen den Bau der „Campusbahn“ gekämpft hat, und Christoph Köther, Vorstand der Hagener Straßenbahn AG, die nun seit 37 Jahren ohne Straßenbahnverkehr auskommt.
Bereits für 16 Uhr ruft die Gewerkschaft Verdi vor dem Rathaus-Eingang am Rathausmarkt zur Teilnahme an einem Protest gegen ein mögliches Straßenbahn-Aus auf.
Vier Fachleute stehen dem Stadtrat heute Rede und Antwort zur Frage, ob Straßenbahnen verzichtbar sind. Die WAZ hat dem Quartett schon vorher seine wesentlichen Standpunkte entlocken können...
Maximilian Slawinski (Contra Straßenbahn): Qualitätseinbuße durch zwei Systeme
Der 27-jährige Diplom-Ingenieur für Wirtschaft und Elektrotechnik hat in Aachen maßgeblich mitgewirkt, um das 240-Millionen-Euro-Projekt der Campusbahn zu stoppen – im März gelang dies mit 66 % Zustimmung in einem Bürgerentscheid. Seine Erfahrung aus der Arbeit für die Aachener Bürgerinitiative „Keine Campusbahn“ will Slawinski weitergeben. Kernthese: Mit einem modernen Busnetz kann Mülheim besser fahren, was Stadtentwicklung (Erschließung neuer Wohngebiete), Qualität und Kosten betrifft.
Letztlich entscheidend für das Aachener Bürger-Veto, so das ehemalige FDP-Mitglied, seien gar nicht mal alleine die hohen Investitionskosten inklusive 130 Mio. Euro Eigenanteil der finanziell gebeutelten Stadt Aachen gewesen. Gleich bedeutend sei für die Bürger der Busstadt Aachen gewesen, dass eine neue Bahn ihnen abverlangt hätte, öfter als bisher umzusteigen, um von A nach B zu kommen. Denn Busse sollten nur noch eine Zubringerfunktion zur Campusbahn erfüllen.
Aachen fahre sehr gut mit seinem System, das nur auf Busse setzt. Auch so erreiche der ÖPNV einen hohen Anteil am Verkehrsvolumen. „Es ist die Frage“, sagt Slawinski: „Will ich zwei Systeme, die nur auf Mittelmaß gehalten werden können, oder ein System mit hohem Qualitätsstandard?“ Wer nur auf Bus setze, habe auch mehr Spielraum für Investitionen in E-Mobilität und Hybridtechnik.
Prof. Rainer Meyfahrt (Pro Straßenbahn): Klimaziele im Auge halten
Anfang 1990 ließ sich der Professor der Uni Kassel (Fachgebiet Öffentliche Verkehrssysteme) beurlauben, um als Chefplaner der Kasseler Verkehrsgesellschaft (KVG) seine Leitidee in die Tat umzusetzen: den Ausbau und die Verbesserung des Nahverkehrs. In seine Zeit bei der KVG fielen die Eröffnungen mehrerer neuer Tramlinien (alle mit Niederflurtechnik). 2007 ging das Grundnetz einer Regiotram in Betrieb, das das Kasseler Straßenbahn-Netz mit dem Netz der Deutschen Bahn koppelt. So verkehren Regiotrams heute auch zwischen der Kasseler Innenstadt und Mittelzentren im Umland.
Meyfahrt sagt: „Aus der Diskussion um Straßenbahnen wird immer ein ideologischer Streit gemacht. Das macht keinen Sinn.“ Es gehe darum, aus Bahnen und Bussen ein sinnvolles Ganzes zu konstruieren, damit die Qualität im Nahverkehr steige. Wie sonst, so der weiter als Honorarprofessor tätige Meyfahrt, solle es gelingen, mehr Fahrgäste für den ÖPNV zu gewinnen?
Mülheims Debatte dürfe nicht losgelöst von Klima- und Umweltfragen geführt werden. Wenn in Deutschland 20 bis 30 % CO2 eingespart werden sollen, sagt er, brauche es 50 % mehr Fahrgäste im ÖPNV. „Diesem Ziel jetzt kurzfristige Haushaltsüberlegungen voranzustellen, ist problematisch.“ Meyfahrt warnt vor dem Abbau der Schienen-Infrastruktur: „Was einmal weg ist, ist weg.“
Christoph Köther (Contra Straßenbahn): ÖPNV kann kostengünstiger sein
Christoph Köther ist seit fast sechs Jahren Vorstand der Hagener Straßenbahn AG – und doch hat er in seinem Wirken beim örtlichen Verkehrsbetrieb noch nie mit einer Straßenbahn zu tun gehabt. Der Grund ist simpel: Zwar trägt die fast 130 Jahre alte Gesellschaft die Straßenbahn noch in ihrem Namen, doch schon seit dem 30. Mai 1976 lässt sie in Hagen keine Straßenbahnen mehr verkehren. Die 190.000-Einwohner-Stadt setzt seither nur noch auf Busse.
Köther sagt: „Ich kann darstellen, dass man ÖPNV sehr wohl kostengünstiger, kostengünstig darstellen kann. Bei uns ist es zu wirtschaftlich sinnvollen Bedingungen und nur mit Bussen möglich.“ Während Mülheims MVG ein Minus von zuletzt fast 30 Mio. Euro einfährt, kommt Hagen mit einem Zuschuss von 11,6 Mio. Euro aus (2012) – und das, so Köther, bei höherer Fahrleistung und höheren Fahrgastzahlen, bei gleichzeitig weniger Personal als bei der MVG. Tiefgreifende Restrukturierungen hätten es in Hagen möglich gemacht, das Defizit von einst 25 Mio. Euro runterzufahren – Auslagerung von Fahrdienst-Leistungen inklusive.
Köther betont aber, er wolle sich hüten, speziell zur Mülheimer Diskussion Stellung zu beziehen. „Es wäre unseriös zu sagen, in Mülheim gibt es Verbesserungspotenzial. Dafür muss man sich viel intensiver mit den Gegebenheiten vor Ort befassen.“
Prof. Heiner Monheim (Pro Straßenbahn): Nicht „blindwütig rationalisieren“
Mit dem Trierer Verkehrswissenschaftler Prof. Heiner Monheim kommt ein Straßenbahn-Befürworter heute (mal wieder) nach Mülheim, der sich als einer der schärfsten Kritiker der Massenmotorisierung und prägender Kopf des Konzeptes der „sanften Mobilität“ einen Namen gemacht hat. Monheim war zwischen 1985 und 1995 Referatsleiter unter anderem für Stadtverkehr und Grundsatzfragen des Verkehrs im NRW-Verkehrsministerium. Er ist Mitbegründer des Verkehrsclubs Deutschlands (VCD), der Initiative für eine bessere Bahn und der Fachvereinigung Bürgerbahn statt Börsenbahn.
Monheim redet „blindwütigem Rationalisieren“ im Nahverkehr das Wort. Mit einer Debatte wie in Mülheim sei niemals ein umweltfreundliches und stadtverträgliches Verkehrskonzept hinzubekommen, hatte er mit Blick auf die damalige Mülheimer Straßenbahndebatte bereits im September 2011 auf einer MBI-Veranstaltung gesagt. Mülheim falle mit seiner Debatte absolut aus der Zeit, anderswo (siehe Frankreich) erlebe die Straßenbahn eine Renaissance.
Monheim vertritt die Meinung, dass Mülheim sein (elektromobiles) ÖPNV-Angebot eher engmaschiger stricken müsse, um Nutzer hinzugewinnen. 17 % ÖPNV-Anteil seien zu gering. In Mülheim fehlten etwa Tangential- und Sektoralverbindungen. Ausbau statt Abbau müsse die Devise sein.