Mülheim.

Marlies Lutterbeck lehnt in den Kissen und schaut auf den bunt bepflanzten Balkon. Sie lächelt, dabei hätte sie Grund, zu verzweifeln. Mit gerade 54 Jahren ist sie schwer pflegebedürftig, lebt im städtischen Seniorenheim Haus Gracht.

MS, Multiple Sklerose, heißt die Krankheit, die ihre Kraft raubt. 2009 bekam sie die sichere Diagnose, danach ging es ihr sehr schnell schlecht. Ihre 31-jährige Tochter bewältigte die Pflege nicht länger, die Suche nach einer stationären Einrichtung begann. Erst kam sie in einem Essener Seniorenheim unter, „mit einer demenzkranken Frau auf einem Doppelzimmer“. Seit Februar 2012 lebt sie im Haus Gracht.

Und zwar: gerne. Obwohl die stark übergewichtige Frau seit drei Monaten ans Bett gefesselt ist. Sie wartet auf einen kostspieligen „Lifter“, der sie in den Rollstuhl hebt, damit sie wieder in den Garten kann, vielleicht gar in die Stadt. Diese Woche soll er endlich da sein.

Mitbewohner sind 30 Jahre älter

Häufiger bekommt sie Besuch: von ihrer Tochter oder Mitbewohnern, die über 30 Jahre älter sind. Für sie kein Problem: „Ich komme mit alten Leuten gut zurecht.“ Dabei ist Marlies Lutterbeck in ihrer Situation nicht alleine: 160 Menschen wohnen im Haus Gracht, acht von ihnen sind jünger als 63 Jahre, die derzeit Jüngste ist Jahrgang 1972.

Spezielle Einrichtungen für Pflegebedürftige, die keine Senioren sind, bestehen in Mülheim nicht. Bei der Stadt, bei der für Heimunterbringungen zuständigen Stelle im Sozialamt, sieht man auch keinen Bedarf für separate Häuser oder Stationen, da nur wenige Menschen betroffen seien.

Bedarf an Pflegeplätzen für jüngere

Von anderen Erfahrungen berichtet Maud Barleben, die im Haus Gracht das Einzugsmanagement leitet, seit über 30 Jahren bei den Mülheimer Seniorendiensten arbeitet und auch schon in den Häusern Auf dem Bruch und Kuhlendahl tätig war. Sie meint: „Wir haben einen kolossalen Bedarf an Pflegeplätzen für jüngere Leute, die nicht behindert sind. Vor allem für den Mittelbau gibt es keine Einrichtungen.“

Man bemühe sich aber, die Betroffenen zu integrieren. Schon bei der Aufnahme: Im Haus Auf dem Bruch etwa lebten relativ viele jüngere Männer. Fragt jemand an, weist man ihn darauf hin. Und im Alltag, so Maud Barleben, „versuchen wir die Jüngeren anders zu betreuen. Sie haben ja auch ganz andere Themen.“ Andererseits seien Menschen mittleren Alters oft schwerstpflegebedürftig, weniger mobil als viele hochbetagte Heimbewohner, was ihre Möglichkeiten begrenzt.

Im Fliedner-Dorf Platz unter 60-Jährige

Auf Marlies Lutterbeck trifft genau das zu. Sie liest aktuelle Literatur, genießt Gespräche mit den Sozialbetreuern. An Aktivitäten konnte sie aber lange nicht teilnehmen. Unglücklich wirkt sie nicht. „Ich habe eine positive Einstellung.“ Zwei Jahre lang habe sie versucht, ihre Krankheit zu ignorieren, „aber sie ließ sich nicht verjagen. Jetzt will ich mein Leben nur noch schön.“

Auch im Fliedner-Dorf in Selbeck kommen Pflegebedürftige mittleren Alters unter: Hier gibt es 210 „stationäre Pflegeplätze für ältere Menschen“, wie es in der offiziellen Beschreibung heißt. In der Praxis allerdings leben hier „15 bis 20 Personen, die unter 60 Jahren sind“, berichtet Claudia Kruszka, Sprecherin der Theodor Fliedner Stiftung. Einige sind sogar noch weit vom üblichen Rentenalter entfernt, können sich aber aufgrund einer schweren Krankheit nicht mehr alleine versorgen.

Keine gesonderter Wohnbereich für Jüngere

Jeder hat ein eigenes kleines Appartement, „da aber im Dorf sowieso alles inklusiv angelegt ist“, so Claudia Kruszka, „gibt es keine besonderen Wohnbereiche für Jüngere.“ In anderen Fliedner-Einrichtungen, etwa in Haan oder Nümbrecht, dagegen schon. In Selbeck stehe etwa das Kulturangebot allen offen, „und wir schauen schon auf spezielle Interessen, wenn sich beispielsweise jemand gerne mit dem Computer befasst, wird dafür gesorgt, dass er auf seinem Appartement einen Zugang hat“.