Mülheim.

Werner Winkler hört es von seinem Enkel öfters: „Opa, das hast du schon mal erzählt.“ Doch es sind Erlebnisse, die ihn nach Jahrzehnten immer noch umtreiben, die ihn prägten und die er mit anderen teilen möchte. Denn seine Lebensgeschichte gibt der Weltgeschichte ein Gesicht. Wie elf andere Menschen nimmt er an der Mülheimer Zeitzeugenbörse teil, deren Ziel es ist, Menschen so fit zu machen, dass sie in Schulen aus ihrem Leben erzählen.

Zeitzeugenbörsen gibt es in ganz Deutschland. Die Mülheimer wurde von Ehrenamtlichen initiiert: Brigitte Reuss, Elke Kurschat, Eva Rytz und Renate Beckmann moderieren die monatlichen Treffen im Sommerhof, denn strukturiertes Erzählen will geübt sein. Die Geschichten und Themen der Zeitzeugen werden seit November 2011 gesammelt, zudem wurden „Koffer der Erinnerung“ als Anschauungsmaterial für den Unterricht gepackt. Die Moderatorinnen sind die Ansprechpartnerinnen für Lehrer, damit das Erzählte in den Unterrichtsstoff eingebettet werden kann. Ab nächstem Schuljahr sollen alle aktuell am Projekt Beteiligten in Schulen gehen können.

Einen anderen Blick vermitteln

Ulrike Storks hat das bereits getan. Sie war in einer Grundschule und erzählte den Kindern von ihrer eigenen Kindheit. Karl Heinz Ruthmann wurde hingegen von Abiturienten mit Fragen gelöchert, die sich vor allem mit der Situation der Juden während der NS-Zeit beschäftigten. Das passt zur Intention Ruthmanns, als er begann, sich in die niedergeschriebene Geschichte des Dritten Reichs einzulesen. „Ich wollte das mit von mir selbst Erlebtem übereinbringen.“

Die Nachkriegszeit ist Thema von Ingeborg Franken und Jutta Loose. Ursprünglich kam Ingeborg Franken zu den Treffen, um die Geschichten ihrer Mutter zu erzählen. Doch dabei stellte sie fest, „dass ich selbst eine Geschichte habe, die Spuren hinterlassen hat“. In der Rückschau habe sie einiges über sich gelernt. Jutta Loose will Schülern einen anderen Blick vermitteln: „Die junge Leute können sich gar nicht vorstellen, in was für einer Einfachheit wir groß geworden sind.“ Ohne Elektronik, aber mit „Eisblumen an den Fenstern“.

Christa Goller freut sich darauf, das erste Mal vor einer Schulklasse zu stehen: „Das war für mich maßgebend, mich zu beteiligen.“ Auch Werner Winkler (Jahrgang 1929) ist überzeugt, dass Jugendliche von seiner Geschichte lernen können. Als 15-Jähriger wurde er aus Niederschlesien nach Russland verschleppt. „Niemals“, sagt Winkler, „bin ich in meine Heimat zurückgekehrt, denn die war ja weg.“ Die Zeit im Arbeitslager mit all seinen Schrecken schildert der Senior nachdrücklich – auch wenn sein Enkel es nicht mehr hören kann.

Treffen an jedem dritten Mittwoch

An jedem dritten Mittwoch im Monat treffen sich die Beteiligten der „Mülheimer Zeitzeugenbörse“ im Sommerhof. Von 10 bis 12 Uhr kann jeweils ein Zeitzeuge eine halbe Stunde lang erzählen, bevor es in eine Diskussion geht.

Alle Treffen werden aufgezeichnet und später abgetippt. Dies dient nicht nur der Dokumentation, sondern hilft den Teilnehmern auch, zu strukturieren. Zudem gibt es so einen Überblick über die Themen, die einzelne Menschen abdecken, was die Vor- und Nachbereitung im Unterricht erleichtert.

Möglich wurde die Mülheimer Zeitzeugenbörse durch Unterstützung des Seniorenbeirats und des Netzwerkes der Generationen, die den Kontakt zum Verein „Pariaktiv“ herstellten, der im Sommerhof angesiedelt ist. Dort steht der Gruppe ein kostenfreier Raum zur Verfügung. „Für unser Haus ist das eine Bereicherung“, so Geschäftsführer Frank Seemann. „Wir sind eine offene Einrichtung.“