Wir haben es ja nicht gewusst.
Kaum ein Satz dürfte im Nachkriegsdeutschland häufiger gefallen sein, bis heute. In den 60er Jahren hat ihn die Wut junger Menschen kollektiv interpretiert als Ignoranz, als Ausrede. In den 60er Jahren, da wusste jeder längst oder hätte wissen müssen, was wirklich geschehen war in Nazi-Deutschland. Die Perfektion des Mordens, das Abschlachten, viel mehr, viel perfider aber noch, das vollständige Ausschlachten von Menschen, ihre moralische, rechtliche, physische und finanzielle Vernichtung, nicht aus Wahn, nicht aus Verblendung, sondern aus kühlem, in jeder Weise berechnendem Kalkül. Den Millionen Opfern stehen hunderttausende unmittelbare Täter gegenüber, aber Millionen Profiteure. Der in vielerlei Hinsicht großartige Publizist Egon Kogon, ein Überlebender von Buchenwald, hat auch das 1946 (!) in seinem Buch „Der SS-Staat“ erschaudernd nüchtern nachgezeichnet und festgehalten. Kogon wusste, dass vor jedem ‘Warum’ das stimmige Wissen zu stehen hat. Die Jugend der 60er wusste, und sie sagte, fragte und klagte an: Warum wusstet ihr es nicht?
Am Sonntag jährt sich der Tag, an dem das Vernichtungslager Auschwitz und die wenigen Überlebenden befreit wurden. Es ist heute ein Tag der Erinnerung, und das ist gut so. Wäre es ein Tag der Rückblende auf den 27. Januar 1945, könnte die Frage, warum wusstet ihr es nicht, vielleicht eine einfache Antwort erfahren. Weil ‘sie’ es nicht wussten. Nicht in dem Sinne, in dem wir heute, medial gestützt, wissen können.
Stellen wir uns für einen Moment vor, die Welt hätte am 27. Januar 1945 gehabt, was sie, beispielsweise, am 11. September 2001 hatte: Internet, Handys, Handykameras, Fernsehsender, freie Zeitungen. Es ist nicht verwegen zu behaupten, dass die Geschichte des Nachkriegsdeutschlands eine andere gewesen wäre. Die Information, das Wissen in Bild und Ton und Text, prägt Einstellungen. Wir haben es ja nicht gewusst, darin steckt im medialen Sinne eine gewisse Wahrheit. Die Erkenntnisse über Auschwitz, sie kamen nicht auf einen Schlag, auf keinem Kanal und unter keiner Internetadresse. Sie kamen oft langsam, mal leise, und wer wollte, der konnte sie übergehen und übersehen.
Unser Autor Thomas Emons hat daher fünf Mülheimer, fünf Zeitzeugen befragt, wie die Erkenntnis, wann und wie sie die Wahrheit über Auschwitz erreicht - und wie sie sie verändert hat. In ihren offenen Antworten geben diese Mülheimer Einblick in persönlich erfahrene Geschichte, die nicht immer einfach und nicht immer gradlinig war. Aber lehrreich.