Mülheim. NRZ-SERIE „GOTT UND DIE WELT“: Behrend Heeren, der nach fast drei Jahrzehnten als Leiter der Willy-Brandt-Schule in den Ruhestand geht, und seine Visionen über die Schule der Zukunft

Zwischen Zeigefinger und Daumen klafft nur eine kleine Lücke. Behrend Heeren lächelt, denn in dieser Geste steckt ein ganzes Bildungsprogramm. So viel trägt manches Gymnasium dazu bei, dass ihre Schüler Abitur machen. Bei uns ist das anders. Heeren zieht seine beiden Handflächen weit auseinander. Er will damit ausdrücken, den Einsatz den Lehrer, aber auch Schüler leisten müssen, damit dieser Abschluss gelingt, ist weitaus größer. Allerdings ist für den Schulleiter der Willy-Brandt-Gesamtschule das Zeugnis der Allgemeinen Hochschulreife nicht der Inbegriff von Bildungserfolg, da setzt er ganz anders an. Wir sehen als unseren Erfolg an, dass in den zurückliegenden Jahrzehnte so gut wie niemand unsere Schule ohne Abschluss verlassen hat. Das kann sicherlich das Abitur sein, aber genauso auch die Mittlere Reife oder eben auch der Hauptschulabschluss. Erfolg liegt für den 65-jährigen Pädagogen dann vor, wenn der einzelne Schüler erkennt, was seine Talente sind und dann entsprechend gefördert werde.

Ungleiches muss auch ungleich behandelt werden, sagt Heeren. Das habe ich schon während des Studiums von Karl Marx gelernt. Der 65-Jährige hat einen dicken Wälzer vor sich liegen, es ist nicht das „Kapital“, sondern der Mülheimer Bildungsplan. Und die Aussage über die Ungleichheit und ihre Folgen stammt nicht aus dem „Kommunistischen Manifest“, sondern aus dem Vorwort, das der damalige Schuldezernent Vermeulen zu dem Plan beigesteuert hatte, immerhin ein Christdemokrat. Für Heeren ein gutes Signal, zeigt es für ihn doch: Die Diskussion ist pragmatischer geworden, nicht mehr so ideologisch.

Im Mittelpunkt steht der Schüler

Nun ließe sich lange darüber streiten, welches Lager in der schulpolitischen Diskussion der letzten Jahrzehnte nun eigentlich die meisten Ideologen aufgeboten hat, letztlich eine Frage der Perspektive. Heeren überlässt solche Probleme getrost den Historikern, stattdessen macht er klar: Im Mittelpunkt steht der Schüler. Was auch zunächst banal klingen mag, ob diesem Grundsatz wirklich gefolgt werde, dies zeige sich eben darin, ob man sich wirklich auf den konkreten Schüler einlasse oder nur einen Lehrplan herunterspule. Heeren hat Soziologie studiert und sagt von seiner Studienzeit: Ich war ein linker 68er. Das erklärt warum er gerne auf empirische Studien zurückgreift: Er will wissen, was ist. Aber er nimmt diese gesellschaftlichen Zustände nicht einfach hin. Irgendwann habe ich mich gefragt: Wem nützt es. Behrend Heeren spricht vom dreigliedrigen Schulsystem. Alle Studien zeigen, diese Struktur begünstigt die soziale Auslese. Der Bildungserfolg hängt von der Herkunft ab. Wenn etwa, wie letztes Jahr in Hamburg, bürgerliche Schichten so vehement gegen die Einheitsschule stritten, so drückt sich darin für Heeren vor allem Standesdünkel aus. Man wolle unter sich sein.

Freilich, so ist er überzeugt, sei der elitäre Habitus, der sich darin ausdrücke, mehr Schein als Sein. Es gibt Untersuchungen über achte Jahrgangsstufen. Die zeigen, dass in allen Schulformen Schüler sind, die eigentlich eine Hauptschule besuchen müssten. Auch im Gymnasium. Wenn diese eigentlich ungeeigneten Schüler dann doch nicht das Gymnasium verließen, liegen dies vor allem am sozialen Hintergrund. Man zieht den dann irgendwie durch. Und eine Fünf in Mathe im Gymnasium klingt besser als eine Fünf in Mathe in der Gesamtschule. Für Heeren ein Zeichen von Ungerechtigkeit. Und schließlich stellt sich noch eine andere Frage: Werden die, die durchgezogen werden, wirklich optimal in ihren Talenten gefördert.? Er verweist wieder auf die kleine Lücke zwischen Zeigefinger und Daumen: Die Gymnasiallehrer seien nicht gewohnt, die gleichen didaktischen und methodischen Anstrengungen aufzubringen, wie es für ihn und seine Kollegen an der Gesamtschule Standard sei. Schaffe es eben die Mehrheit aufgrund ihrer sozialen Herkunft noch von alleine. Doch durch den hohen Zulauf, den das Gymnasium erhalte, werde sich das ändern: Das Gymnasium ist eigentlich die Hauptschule von heute, sagt der 65-Jährige, eben weil es immer mehr zur Regel werde, es zu besuchen.

Überschneidungen zwischen Haupt- und Realschule

Für Heeren müsste dies Konsequenzen nach sich ziehen. Der Schulkompromiss, der zwischen Landesregierung und Opposition geschlossen worden ist, bildet für ihn eine gute Basis: Meine Vision ist die vielfältige Einheitsschule. Seine Prognose für die Mülheimer Schullandschaft: Die Sekundarschule, die jetzt eingeführt wird, bietet für Real- und Hauptschulen eine große Chance. Schon jetzt gebe es, wie gesagt, eine Überschneidung des Klientel zwischen Haupt- und Realschule. Das neue Modell biete darauf eine Antwort, weil konzentrierter auf diese Herausforderung reagiert werden könnte: Es stehen mehr Ressourcen zu Verfügung, an Lehrern, aber etwa auch Sozialarbeitern. Den Schulleitungen rät Heeren den aktuellen Umbruchprozess mit zu steuern und so Profil zu gewinnen: Sie müssen überlegen: Gestalten wir selbst oder werden wir gestaltet.

Die Ressourcen sind sicher eine wichtige Frage, aber was ist mit den Inhalten? Die Schulen dürfen nicht den Kern ihrer Aufgabe vergessen, nämlich Wissen zu vermitteln. Heeren macht eine Pause. Da könnte ich mir noch mehr Neues vorstellen, aber es liegt nicht allein an mir. Heeren setzt weniger auf feste Lehrpläne. Die Erfahrung zeige, je größer das Interesse der Schüler sei, um so engagierter würden sie mitarbeiten. Es gelte, Leidenschaft für bestimmte Themen zu vermitteln. Warum, so fragt der Werder Bremen-Fan Heeren, nicht mal ein Projekt über Schalke 04? Da könnten die unterschiedlichsten Fachgebiete abgearbeitet werden - von Geschichte bis zu wirtschaftlichen Fragen. Nur eben konkret, nicht abstrakt.

Plädoyer für mehr handwerkliches Können

Überhaupt abstrakt: Heeren, der bekennende 68er, gehört einer Lehrer-Generation an, die in ihrer Berufslaufbahn eine zunehmende Theoretisierung der Pädagogik erlebt hat. Theorie ist wichtig, dass er dies immer noch sagt, ist denn auch weniger überraschend. Beachtenswert ist vielmehr sein Plädoyer für mehr handwerkliches Können. Viele ganz banale Dinge wissen manche Referendare nicht mehr. Wie man sich hinstellt oder spricht. Das ist aber wichtig. Eben Handwerk. Ich habe da übrigens erste Erfahrungen bei der Bundeswehr gemacht. Da habe ich Gruppenstunden in Staatsbürgerkunde gehalten.

Am Montag, 2. Juli, nun wird Behrend Heeren nach fast drei Jahrzehnten als Schulleiter verabschiedet. Wenn er sagt: Die Schule ist auch Zuhause. - glaubt man es ihm. Und wenn er eingesteht, dass er noch nicht überlegt habe, wie denn nun sein Ruhestand aussehen solle, auch: Bis jetzt war viel zu viel zu tun. Es ist ihm jetzt auch schon klar: Am meisten werde ich das Unterrichten vermissen. Er könnte auch sagen: die Schüler.