Mülheim. Ein Mülheimer rief den Notarzt für seine asthmakranke Frau – und soll nun dafür zahlen. Seine Kasse verweigere die Transportkosten, so die Begründung. Damit ist der Mann kein Einzelfall.
„Hilfe! Jemand muss helfen“, das war der einzige Gedanke, den Christian Huchel in der Nacht zum 8. August 2011 hatte. Seiner Frau, die an Asthma leidet, ging es sehr schlecht -- Atemnot. Huchel rief den kostenfreien Notdienst seiner Krankenkasse an. Eine Stunde, früher könne keiner da sein, hieß es. So blieb nur die 112 und der Notarzt. Der kam samt Rettungswagen und setzte eine Spritze. Huchels Frau ging es danach besser, das Krankenhaus blieb ihr erspart. Jetzt erhielt die Familie dafür die Quittung von der Stadt Mülheim; eine Rechnung über 160 Euro. Seine Kasse verweigere die Transportkosten, stand in dem Brief. Der Mülheimer wird zahlen müssen. Mehr noch: Die Gemeinden müssen diese Rechnungen schreiben, ob sie wollen oder nicht.
Ob Kasse zahlt, ist Kulanzsache
Den Sinn des Rettungswesens versteht Huchel nicht mehr: „Beim nächsten Mal überlegen wir uns zwei Mal, ob wir den Notarzt kommen lassen.“ Der Grund für die Zahlungsaufforderung: Nach dem Gesetz und höchstrichterlicher Rechtsprechung ist ein Krankentransport ein Krankentransport, wenn eine Fahrt vorliegt -- ins Krankenhaus. Sonst handelt es sich um eine „Leerfahrt“. Die Kassen müssen dann nur die Kosten der Behandlung übernehmen. Ob eine Kasse doch zahlt, liegt an ihrer Kulanz. Im geschilderten Fall lehnte es die DAK ab.
Warum ist man denn versichert, fragt sich nicht nur Huchel und spricht von „einem dreisten Vorgehen“. Dabei ist sein Fall kein Einzelfall, wie der Mülheimer Feuerwehrchef Burkhard Klein weiß, der das Ganze für „absolut ärgerlich“ hält. „Das sieht so aus, als wollten wir die Patienten ausnehmen.“ Allein in Mülheim sind es bei über 12 000 Einsätzen des Rettungsdienstes im Jahr 1000 Fälle, die sich wie bei den Huchels oder so ähnlich abspielen.
Bundessozialgericht entschied zu Lasten der Patientin
Dabei handelt es sich nicht immer um Notarzteinsätze. Manche sind offenkundig nicht notwendig, manchmal sind die Rettungssanitäter allein unterwegs und päppeln den Patienten zu Hause auf. Oder Patienten weigern sich, ins Krankenhaus zu gehen, weil sie etwa die kleinen Kinder nicht alleine lassen wollen. Der Fall einer Mutter, der das widerfuhr, wurde im Jahr 2008 vom Bundessozialgericht zu Lasten der Patientin entschieden. Sie hatte in den Vorinstanzen noch obsiegt.
Fahrt muss „zwingend erforderlich“ sein
Notärzte sind binnen Minuten am Einsatzort. Das hat einen Preis, der in die Milliarden geht und über die Krankenversicherung getragen wird. Der Gesetzgeber wollte den Krankenkassen die Anfahrten nur auflasten, wenn sie „zwingend erforderlich“ sind. In der Logik der Paragrafen sind sie das, wenn die Fahrt ein Ziel hat: das Krankenhaus. Tatsächlich bestätigen Ärzte und Feuerwehrleute, dass es viele nichtige Alarme gibt. Für solche Vorkommnisse haben alle Gemeinden die Gebührenordnungen in den letzten Jahren drastisch angehoben. Fälle wie der der Familie Huchel liegen zwar erkennbar anders, fallen aber unter dieselben Vorschriften. Manche Kassen in NRW regeln dieses Problem schon heute im Sinne der Patienten. AOK-Regionalleiter Dieter Hillemacher: „Wir lassen uns das Notfallprotokoll schicken und prüfen, ob der Einsatz medizinisch erforderlich war.“ Bei grobem Eigenverschulden zahle die Kasse allerdings nicht.
Die Bundesrichter aber urteilten streng formal und auf Grundlage von § 60 Sozialgesetzbuch V. Selbst bei Todesfällen müssten die Krankenkassen die Fahrt des Rettungswagens nicht zahlen. Feuerwehrchef Klein kann die Fassungslosigkeit der Betroffenen gut verstehen. Gesetzlich Versicherte seien es ja gewohnt, dass, von einigen Sonderfällen wie Zahnersatz und Brillen abgesehen, medizinisch notwendige Leistungen von der Kasse übernommen werden, ohne dass sie eine Rechnung erhalten.
Nicht nur Klein hatte im vergangenen Jahr deswegen auf eine Petition an den Deutschen Bundestag gehofft, die aber vor einem halben Jahr abgewiesen wurde. In seiner Begründung gab der Petitionsausschuss zu bedenken, „dass die geforderte Leistungserweiterung erhebliche Kostensteigerungen zu Folge hätte.“ Und die müsste von der Allgemeinheit geschultert werden.
"Bei Asthma-Anfall ist die Lage eindeutig"
Dabei sieht Klein, dass auch die Regelung leicht zu volkswirtschaftlich unsinnigem Verhalten führen kann. Wer von der Kostenübernahme weiß, würde sich eher ins Krankenhaus einliefern lassen. Schlimmer noch: Patienten und Angehörige könnten im Wissen um die Kostenübernahme davor zurückschrecken, 112 zu wählen. Wie aber wollen medizinische Laien einen Kollaps richtig einschätzen? Eine Grauzone, die nach Angaben des Bundesgesundheitsministerium in allen Bundesländern bis auf NRW mit den Kassen auf „informeller Ebene“ gelöst worden ist, wie Staatssekretärin Ulrike Flach (FDP) erklärt.
Sie stützt sich dabei auf den Spitzenverband der Krankenkassen und weiß, dass es „viele schillernde Fälle“ gibt, bis hin zum groben Schindluder. „Aber bei einem Asthma-Anfall ist die Lage eindeutig. In anderen Bundesländern zahlen die Kassen.“ Klagen, die sie häufiger erreichten, kämen alle aus NRW. Da der Rettungsdienst Ländersache sei, liege die Lösung des Problems somit bei Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne).