Mülheim. Die NRZ sprach mit dem Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann und Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld über die zwei Seiten der Bürgerbeteiligung.

Bürgerbeteiligung zu fordern gilt heute als politisch korrekt. Doch sie kann auch dem Gemeinwohl schaden, wenn damit wichtige Entscheidungen verhindert werden. Darüber, ob Bürgerbeteiligung ein demokratischer Fortschritt oder eine wirtschaftliche Innovationsbremse ist, diskutierten am Dienstagabend in der katholischen Akademie die Politikwissenschaftler Theo Schiller von der Universität Marburg und Ulrich von Alemann von der Universität Düsseldorf mit NRZ-Chefredakteur Rüdiger Oppers.


Im Vorfeld der Podiumsdiskussion befragten die NRZ Parteienforscher von Alemann und Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld zu Licht und Schatten der Bürgerbeteiligung, die mit einem Bürgerbegehren zum Erhalt des weiterführenden Schulstandortes Bruchstraße oder mit Bürgerforen zu Etat und Nahverkehr auch in Mülheim reichlich praktiziert wird.

Wie weit kann Bürgerbeteiligung gehen? Sind Bürger bei differenzierten Fragen wie der Aufstellung eines Haushalts oder eines Nahverkehrsplanes nicht überfordert?

Ulrich von Alemann: Die Haushaltsaufstellung sollte grundsätzlich den jeweils gewählten Repräsentanten überlassen werden. Doch die Bürger könnten angehört werden und so stärker in den Prozess eingebunden werden.

Dagmar Mühlenfeld: Geht man vom Wortsinn aus, dann braucht Bürgerbeteiligung keine Grenzsetzung. Seine Sichtweise kann jeder in den öffentlichen Diskurs einbringen. Dazu stehen verschiedene Kommunikationsmittel zur Verfügung. Idealtypisch ist das Engagement über die Parteien. Da in den aktuellen Diskussionen nicht vom Wortsinn ausgegangen wird, wenn von Bürgerbeteiligung die Rede ist, sondern von einem gefühlten Gegensatz zwischen den Ansichten der Bürger und denen der Politik, den es durch mehr teilhabeorientierte Einflussmöglichkeiten zu überbrücken gilt, braucht Bürgerbeteiligung Spielregeln und Grenzen. Die sind in allen Gesetzen über die Instrumente, etwa Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, auch bereits verankert. Für mich ist der Kern von Bürgerbeteiligung die umfassende Information über alle Zahlen, Daten und Fakten, die bei der politischen Beschlussfassung zu einem Thema zu berücksichtigen sind, und die Aufforderung, dazu Stellung zu nehmen, Meinungen und Vorschläge beizusteuern. Damit Bürger nicht inhaltlich überfordert sind, ihre Beteiligungsrechte auszuüben, sehe ich alle Beteiligten in der Pflicht. Verwaltung und Politik müssen auch komplexe Sachverhalte nachvollziehbar aufzubereiten. Und Bürger müssen von solchen Informationen Gebrauch machen.

Wäre es ehrlicher und realistischer, Bürgerbeteiligung auf Bürgerbegehren und Bürgerentscheide und damit auf Fragen zu begrenzen, die Bürger mit einem klaren Ja oder Nein beantworten können?

von Alemann: Es ist selbstverständlich leichter, einen Bürgerentscheid auf eine klare Ja-Nein-Frage zu beschränken. Aber die Möglichkeiten der Beteiligung erschöpfen sich ja nicht in der Teilnahme an Bürgerbegehren oder Volksentscheiden. Vielmehr gibt es gerade auf kommunaler Ebene, etwa im Rahmen von Planfeststellungsverfahren, Möglichkeiten der differenzierten Einbeziehung in den Prozess.

Mühlenfeld: Das ist Ansichtssache. Wichtig ist, dass es einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, was unter Bürgerbeteiligung zu verstehen ist und was sie bewirken soll. Nach unserem Verfassungsverständnis ist sie zumindest immer ein Beratungsorgan für die Politik in den Parlamenten. Ich halte Bürgerbeteiligung für wünschenswert, weil sie die Identifikation mit den Themen, die die Menschen betreffen, mit politischen Entscheidungen und damit mit dem Gemeinwesen stärkt.

Öffnet Bürgerbeteiligung nicht auch dem Populismus und der Dominanz von Teilinteressen mit starker Lobby Tür und Tor?

von Alemann: Politik und Populismus liegen immer nah beieinander, auch bei den gewählten Repräsentanten. Es ist allerdings richtig, dass man bei den Instrumenten der direkten Demokratie darauf achten muss, dass der Einfluss starker und gut vernetzter Einzelgruppen nicht überhandnimmt. Zudem zeigt die Erforschung der Bürgerbeteiligung, dass es einen Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau und politischer Beteiligung gibt.

Mühlenfeld: Das kann meiner Meinung nach nur passieren, wenn sich die Parlamentarier ihrer eigenen Verantwortungsaufgabe nicht uneingeschränkt stellen (wollen) und wenn das Gemeinwohl nicht mehr von allen als oberstes Ziel verfolgt wird.

Ist Bürgerbeteiligung nicht manchmal auch ein Alibi für Politiker, nicht selbst entscheiden zu müssen, sondern ihre Entscheidung an die zu delegieren, die sie gewählt haben?

von Alemann: Diese Gefahr besteht. Doch ich denke, die Politiker entscheiden in der Regel lieber selbst. Letztlich bringt die Abgabe der Entscheidungsmacht für die Politiker zunächst einmal Ungewissheit, denn sie wissen nicht, wie sich die Bürger in einer Frage entscheiden werden. Dies bedeutet einen Macht- und Kontrollverlust. Da Politiker beispielsweise auch in Koalitionen oder anderen Zwängen agieren, die das System Politik mit sich bringt, ist diese Unberechenbarkeit für sie nicht zwingend von Vorteil.

Mühlenfeld: Wenn man bedenkt, wie über Politiker im Kabarett, in den Medien und an Stammtischen geredet und voreilig geurteilt wird, kann ich nachvollziehen, dass Politiker manchmal versucht sind, ihre Verantwortung mit denen zu „teilen“, denen sie es ja offensichtlich überhaupt nicht recht machen können und die nur „Prügel“ verteilen, wenn nicht genau ihre Interessen durchgesetzt werden. Wenn Politikern nicht vielfach unterstellt würde, dass sie nur ihre eigenen Interessen und nicht die des Gemeinwesens verfolgen, wenn sie also als dem Gemeinwesen verpflichtete Entscheider wahr- und ernst genommen würden, dann würde sich diese Frage nicht stellen.