Mülheim. .
Da sitzt er auf der Bühne, schon 67 Jahre alt und energiegeladen wie ein Junger. Erzählt von seinen Anfängen mit den Rattles in den frühen 60ern. Lässt die Tour im klapprigen Bus durch England und Schottland noch einmal aufleben. Mit dabei: Eine picklige englische Band, die sich Rolling Stones nannte.
Oder erinnert sich an die geile Zeit im Hamburger Starclub, wo auch eine junge Truppe aus Liverpool spielte: die Beatles. Und verzückt dann drei Stunden später mit einer wunderschönen Vertonung von Eichendorff-Gedichten. In der ausverkauften Stadthalle nahm Achim Reichel seine Fans mit auf eine faszinierende Zeitreise durch 50 Jahre deutsche Musikgeschichte.
Solo mit Euch – „Mein Leben, meine Musik“ heißt die überaus erfolgreiche Tour, mit der Reichel, einer der innovativsten Musiker schlechthin, seit 2009 die Säle im Lande mühelos füllt. Beide Seiten haben ihren Spaß dabei. Reichel, weil er die Zuneigung der Leute genießt, die Hits wie das naive „come on and sing“ – damals noch mit den Rattles – oder Balladen wie den „Spieler“ nach der literarischen Vorlage von Jörg Fauser – und natürlich Fontanes „Herrn von Ribbeck“ – aus voller Kehle mitschmettern.
Recht hoher Altersschnitt
Für die Zuhörer, Altersschnitt deutlich über 50 Jahre, ist es dagegen ein Nostalgietrip. Angefangen mit der Zeit in Mutters Küche, als man verzweifelt am Röhrenradio herumkurbelte, um Radio Luxemburg reinzukriegen. Denn nur dort wurde die neue, wilde Musik gespielt.
Kollektive Euphorie dann beim Mega-Hit „Sansibar“ (Aloha Heja he), der auf keiner deutschen Fete fehlen darf und inzwischen bei Youtube 3,5 Millionen mal angeclickt wurde. „Wenn es für jeden Click ‘nen Cent geben würde, wäre das nicht schlecht“, kommentiert Reichel trocken. Auch so dürfte er sein Auskommen haben.
Der erste Teil fällt etwas zu wortlastig aus. Auch wenn Reichel mit seiner rauchigen Stimme ein hervorragender Storyteller ist. Ausführlich erzählt der erste Superstar der deutschen Rockmusik von den Anfängen mit den Rattles. Dass er in dieser Zeit zur Bundeswehr einberufen und zum – von den Medien stark beachteten – Vorzeigesoldaten avancierte, während in der Band Frank Dostal seinen Platz einnahm, stellte sich im Nachhinein als Glücksfall heraus. Denn nach einem kurzen Intermezzo mit der Kunstband „Wonderland“ versucht er, Shanties mal ganz anders zu singen. Rockiger. Und bis heute widmet sich Achim Reichel der Vertonung von bekannten Texten.
Zeitkritisches im musikalischen Angebot
Die „Regenballade“, sie blieb am Samstagabend leider ausgespart, ist ein Meisterwerk. Aber auch Zeitkritisches kommt nicht zu kurz. Die düstere Anklage „Exxon Valdez“ aus dem Jahr 1991 ist bis heute unverändert aktuell. Als seine alten Musikkumpane Berry Sarluis (Akkordeon, Keyboard) und Pete Sage (Geige, Gitarre) ins Programm einsteigen, nimmt der Abend in der Stadthalle so richtig Fahrt auf. Rau, aber herzlich, kommen die drei herüber.
Haben ebenso Spaß wie Kuddel Daddeldu, von Ringelnatz erschaffen. Sie wissen schon, der mit dem trotzigen Refrain: „Was kann die Welt dafür, dass ich sie liebe.“ Stehende Ovationen.