Mülheim. Weil er in seiner Heimat keine Zukunft sah, schlug ein junger Mann aus Weißrussland einen neuen Weg ein - und landete in einem Mülheimer Betrieb.

Als sogenanntes Tschernobyl-Kind kam Yura Ihnatsenka einst zum ersten Mal nach Deutschland. Der Junge, dessen Heimatdorf rund 250 Kilometer von dem zerstörten Kernkraftwerk entfernt liegt, sollte sich im Ruhrgebiet erholen. Neben Erholung und Ablenkung fand Yura hier eine zweite Familie - und nun auch einen Ausbildungsplatz in einem Mülheimer Betrieb. Jetzt lernt der 27-jährige Zerspanungsmechaniker. Denn mit seinem Beruf als Deutschlehrer sah er in seiner Heimat keine Perspektive. Ob er in Deutschland eine haben wird, so wie er es sich wünscht, entscheiden auch die Behörden.

Er war sieben, vielleicht acht Jahre alt, als er mit rund 40 anderen Kinder zum ersten Mal nach Deutschland reiste. „Wir blieben vier, fünf Wochen in den Sommerferien und haben bei Familien gelebt“, blickt der mittlerweile 27-Jährige zurück. Entstanden sei damals ein enges Band zu einer Familie in Duisburg, die er fortan regelmäßig besuchte „Als ich zu alt für den Gastkinder-Aufenthalt wurde, haben wir meine Reisen nach Deutschland privat organisiert.“

Als Deutschlehrer in Belarus: „Die Atmosphäre dort hat schlechte Laune gemacht“

In seiner Heimat Belarus, Weißrussland, hat Yura seit der fünften Klasse Deutsch gelernt. Folgerichtig studierte er Deutsch, schloss als Deutschlehrer ab. Doch die Umstände in den Klassenzimmern, wie in seiner Heimat unterrichtet wird, was das Bildungssystem vorgibt, machten ihn nicht zufrieden. „Die Atmosphäre dort hat schlechte Laune gemacht“, formuliert der junge Mann vorsichtig. Auch der Verdienst sei alles andere als ausreichend gewesen. „Nebenbei habe ich als Türsteher gearbeitet.“

Der aus Weißrussland stammende Azubi Yura Ihnatsenka (27), hier mit seinem Ausbilder und Betriebsleiter Jamshid Kohestani, an einer Drehmaschine der Georg Beyer GmbH in Mülheim-Styrum.
Der aus Weißrussland stammende Azubi Yura Ihnatsenka (27), hier mit seinem Ausbilder und Betriebsleiter Jamshid Kohestani, an einer Drehmaschine der Georg Beyer GmbH in Mülheim-Styrum. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

„Ich wollte immer nach Deutschland“, sagt Yura. Doch einen ersten Versuch bremste Corona aus: „Da war bei uns alles zu, kein Termin für ein Visum zu bekommen.“ Über die persönlichen Kontakte aus der Zeit als Gastkind kam dann die Aussicht auf eine Ausbildung bei der Mülheimer Georg Beyer GmbH, ein Mittelständler, der auf Maschinenbau und Metallverarbeitung spezialisiert ist. Denn hier, an der Neustadtstraße in Styrum, sucht man händeringend Mitarbeiter.

Maschinenbau-Mittelständler aus Mülheim sucht händeringend Personal

Draußen an der Fassade der Halle, die zu der seit fast 80 Jahren bestehenden Firma gehört, hängt noch ein Schild, in das der Chef bei Bedarf diejenige Berufsbezeichnung einschieben kann, die gerade im Betrieb gebraucht werden. Doch längst gebe es niemand mehr, der sich auf den Aushang bewerben würde, sagt Geschäftsführer Thomas Kretschmer. „Früher kam die Schicht von Mannesmann hier vorbei“, erinnert sich Kretschmer. Damals seien dort pro Ausbildungsjahr 30, 40 Leute freigesetzt worden, die dann in umliegenden Betrieben Arbeit suchten. Lange her.

Thomas Kretschmer, Geschäftsführer der Georg Beyer GmbH in Mülheim.
Thomas Kretschmer, Geschäftsführer der Georg Beyer GmbH in Mülheim. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

„Heute kann man nirgends mehr Personal abgreifen.“ Jemanden zu finden, der Einzelteilfertigung auf hohem Niveau beherrsche, sei schwierig. Azubis zu gewinnen, sei nochmal schwerer, sagt der Georg Beyer-Chef. „Wir haben schon Zeit und Geld in die Einarbeitung gesteckt, jemandem drei, vier Monate Zeit gegeben, aber dann hat es doch nicht geklappt.“ 16 Mitarbeitende zählt Kretschmer derzeit. Yura ist der einzige Azubi - wenn er im kommenden Jahr seine Lehre abschließt, würde die Georg Beyer GmbH gerne wieder ausbilden. Ob sich jemand findet? Achselzucken. Ausbilder und Betriebsleiter Jamshid Kohestani sagt: „Die jungen Leute haben heute andere Ziele, viele fangen an zu studieren und brechen dann ab.“

Yura aus Belarus und sein Chef aus Mülheim müssen manche Hürde meistern

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Als feststand, dass Yura aus Belarus der neue Azubi werden sollte, musste nicht nur der junge Mann Hürden wie die Erteilung des Visums überwinden, auch der Betrieb sah sich vor Herausforderungen: „Als wir beim Arbeitsamt angefragt haben, hieß es zunächst, wir müssten erst gucken, ob wir nicht jemanden aus Deutschland einstellen können. Ist dort nichts zu finden, müsse es jemand aus der EU sein. Und nur wenn sich dort niemand findet, könne man jemanden aus einem Drittstaat, wie Weißrussland einer ist, einstellen“, schildert Kretschmer den langen Weg. „Wir haben die Ausländerbehörde in Duisburg eingeschaltet, die deutsche Botschaft in Belarus und das Konsulat. Als ich beim Arbeitsamt dann Yuras Geschichte erzählt habe, hat man gesagt: Wir helfen ihm.“

Dass der junge Mann handwerkliches Geschick mitbringt, habe man schnell festgestellt, heißt es in dem Mülheimer Maschinenbau-Betrieb. Yura erklärt, warum das so ist: „Ich komme aus einem Dorf mit 300 Einwohnern, da gab es nicht viel und wir mussten uns viel selbst helfen.“ Die meisten Häuser bestünden dort aus Holz, die wenigsten verfügten über eine Wasserleitung. „Dort gibt es immer weniger Arbeit, die meisten sind in die Stadt gezogen“, erzählt Yura nach seinem ersten Heimatbesuch über Ostern. Auch wenn er Deutschland von klein auf kannte, war es für den jungen Mann doch eine Umstellung, alleine hier zu leben: „Vieles ist unterschiedlich, es gibt viele Gesetze, die ich nicht kannte. Die Berufsschule war anfangs gewöhnungsbedürftig.“

Junger Mann aus Weißrussland plant seine Zukunft samt Partnerin in Deutschland

Doch dass seine Zukunft in Deutschland liegt, davon bleibt der junge Mann überzeugt. Aber auch künftig müssten die Behörden mitspielen, macht sein Arbeitgeber deutlich: „Es gab Probleme mit seinem Aufenthaltstitel, er musste schon ein paar Mal zur weißrussischen Botschaft, weil in seinem Pass etwas fehlte.“ Schließt Yura seine Ausbildung wie geplant im Frühjahr 2025 erfolgreich ab, ist ihm nicht nur eine Übernahme bei der Georg Beyer GmbH sicher, sagt Kretschmer: „Eine bestandene Ausbildung ist Voraussetzung für einen Aufenthaltstitel.“

Jamshid Kohestani, Betriebsleiter und Ausbilder bei der Georg Beyer GmbH in Mülheim.
Jamshid Kohestani, Betriebsleiter und Ausbilder bei der Georg Beyer GmbH in Mülheim. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Yura würde seine Aussichten auf ein Leben, seine Karriere in Deutschland nicht aufs Spiel setzen. Kopfschüttelnd erzählt er, dass von seinem Ausbildungsgang in der Berufsschule für die Region Mülheim/Oberhausen gerade mal zehn Azubis übrig seien. „Viel zu wenig für einen Industriestandort wie unseren“, sagt auch Thomas Kretschmer. Dabei, ergänzt Ausbilder Jamshid Kohestani: „Wenn man die Lehre abgeschlossen hat, kann man weiter darauf aufbauen, seinen Meistern, den Techniker oder Betriebswirt machen.“

Da leuchten Yuras Augen - er scheint seine Bestimmung gefunden zu haben. „Ich sehe mich als Deutscher und möchte, dass meine zukünftigen Kinder auch die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen.“ Die Zukunft mit seiner Freundin hat der junge Mann also auch schon klar vor Augen.

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