Mülheim. Fritzi ist schwerbehindert, besucht aber dennoch eine reguläre Kita. „Sie ist Teil der Gruppe, wie alle anderen auch.“ Wie funktioniert das?

Hier wuseln rund 40 kleine Mädchen und Jungen herum - die einen basteln, die anderen malen, wieder andere lauschen einer Geschichte ihrer Erzieherin. Ein typisches Bild also für eine Kita. Nicht ganz so typisch ist allerdings, dass mittendrin ein schwerbehindertes Mädchen sitzt, gestützt von seiner Mutter. Fritzi, dreieinhalb Jahre alt, hat einen schweren Gendefekt, kann weder selbstständig laufen, noch sprechen, besucht aber dennoch einen Regel-Kindergarten. Wie funktioniert das Miteinander?

Berührungsängste kennt Aria ganz offensichtlich nicht. Die Fünfjährige sitzt neben Silke Duckwitz, die ihre Tochter Fritzi auf dem Schoß hält. Aria hat den Kopf auf das Knie von Silke Duckwitz gelegt, auf ihr ruht der Arm von Fritzi. Versonnen lauschen beide Mädchen der Geschichte, die Erzieherin Uschi Weitz erzählt. Ob Fritzi versteht, wie der Bär im Wald Freunde findet und welches Geräusch von den ausgeteilten Instrumenten welchem Tier zugeordnet ist? Niemand kann das mit Bestimmtheit sagen, denn erzählen, wie sie die Situation wahrnimmt, kann Fritzi nicht - zumindest nicht mit Worten.

Fritzi (3) aus Mülheim hat seltenen Gen-Defekt

Die Dreijährige hat den seltenen Gendefekt AFG2A (vormals SPATA5). Dadurch ist sie schwer mehrfach behindert, leidet an Epilepsie und ist rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen. Dass ihr Leben trotzdem in möglichst vielen Facetten genau wie das von Aria, Bela, Marie und Smilla und den anderen kleinen Menschen in der Kita verlaufen soll, stand für die Mütter Silke und Lea Duckwitz früh fest.

Wenn die Integrationskraft, die das dreijährige Mädchen normalerweise in den Kindergarten begleitet, ausfällt, betreut Mutter Silke Duckwitz Fritzi während des Kita-Besuchs.
Wenn die Integrationskraft, die das dreijährige Mädchen normalerweise in den Kindergarten begleitet, ausfällt, betreut Mutter Silke Duckwitz Fritzi während des Kita-Besuchs. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Dabei, blickt Silke Duckwitz zurück, hatten sie Fritzi schon in Kitas angemeldet, noch bevor die Diagnose sie ereilte. Denn zunächst entwickelte sich ihre kleine Tochter, die mithilfe einer Kinderwunschbehandlung und eines Samenspenders gezeugt worden war, so wie andere Kinder auch. Als die Mütter beim Kinderarzt erste Vermutungen vorbrachten, dass ihre Tochter anderes sei als andere Kinder, winkte dieser ab mit den Worten: „Jedes Kind entwickelt sich anders.“

Kinder in Mülheimer Kita integrieren behindertes Mädchen

In der Kita spielt Fritzis Anderssein nur eine untergeordnete Rolle. „Wir gucken jeden Tag, wie ihre Stimmung ist und probieren aus, ob sie mittendrin im Geschehen sein will, oder lieber am Rand auf einer Matratze liegen möchte“, erklärt Anja Hoffmann, Leiterin der evangelischen Tageseinrichtung für Kinder „Arche“ in Holthausen.

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Weil Fritzi aber permanent Hilfe braucht, etwa beim Sitzen gestützt werden muss, wenn sie nicht gerade in ihrem Therapiestuhl sitzt, und sich nicht selbst fortbewegen kann, begleitet eine Kita-Assistenz sie. Janna Lauth hat diese 1:1-Betreuung als Integrationskraft übernommen. Sie ist selbst Mutter zweier Söhne, sieben und acht Jahre alt, die den Kindergarten Arche besucht haben. Als Fritzis Mütter händeringend auf der Suche nach einer Unterstützung im Kita-Alltag waren, entschied sich die gelernte Hebamme, ihrem Berufsleben eine neue Wendung zu geben.

In Mülheimer Kita begleitet Integrationskraft die behinderte Fritzi im Kita-Alltag

„Mir war ziemlich schnell klar, dass das das Richtige für mich ist. Aber erst jetzt ist mir klar geworden, was Inklusion eigentlich bedeutet“, schildert Lauth. Täglich zu erleben, wie die Kinder mit Fritzi umgehen, auf ihre Bedürfnisse eingehen, sei herzerwärmend. „Ich bekomme total viel Hilfe von den Kindern, wenn ich mich um Fritzi kümmere. Sie bringen mir Sachen für sie oder sagen: Ich glaube, Fritzi ist müde. Sie ist Teil der Gruppe, wie jedes andere Kind auch.“ Die Kinder beobachteten das behinderte Mädchen sehr genau, fühlten sich empathisch ein und sammelten Ideen, wie Fritzi teilhaben kann. „Da ist viel Entgegenkommen von den Kindern und auch von den Erzieherinnen, ohne dass ich das Gefühl habe, sie würden das als Einschränkung erleben. Das ist tatsächlich der Inklusionsgedanke.“

Fritzis Mutter lässt keinen Zweifel daran, dass es ohne die Integrationskraft nicht ginge. Sie und ihre Frau gehen beide in Teilzeit arbeiten, haben ihre Stunden reduziert, um sich abwechselnd um Fritzi kümmern zu können. Das bedeutet auch, den Vormittag mit in der Kita zu verbringen, wenn die Integrationskraft mal nicht da ist. So wie an diesem Vormittag. Silke Duckwitz hält den Arm von Fritzi, die mit ihrer Hand den kleinen Schlagstock fürs Xylophon fest umschlossen hat und Töne erzeugt, indem sie auf die bunten Metallplättchen schlägt.

Fritzis Freundin Aria krault der Dreijährigen den Kopf, bis sie eingeschlafen ist

Fritzis blaue Augen hinter der runden Kinderbrille leuchten, das Mädchen lächelt. „Musik ist einfach ihrs“, sagt ihre Mutter. Je mehr Musiksequenzen erklingen, umso munterer wird die Dreijährige: Sie stemmt sich hoch, wird von ihrer Mutter gehalten, damit sie stehen kann. Die anderen Kinder reichen ihr den Stofftier-Bären zum Fühlen an, der Protagonist in der Geschichte von Erzieherin Uschi Weitz ist. Als es wieder ruhiger wird, lässt sich Fritzi zurück in den Schoß ihrer Mutter sinken. Nach ein paar Minuten sagt die fünfjährige Aria, die Fritzi auch schonmal zuhause besucht hat, und gerade ihren Kopf krault: „Ich glaube, sie ist eingeschlafen.“

Sind ein eingespieltes Team: Fritzi und Aria, die ihre behinderte Freundin auch zuhause besucht.
Sind ein eingespieltes Team: Fritzi und Aria, die ihre behinderte Freundin auch zuhause besucht. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Auch das ist in Ordnung, Fritzi macht ein Schläfchen, die anderen Kinder ziehen mit Erzieherin Uschi einen Raum weiter. „Das ist wie ein Sechser im Lotto für uns“, sagt Silke Duckwitz über den eingespielten Kita-Alltag. Dass es mal so unkompliziert laufen würde, hätten sich die Mütter kaum träumen lassen. „Wir haben nach der Diagnose die Kindergärten angerufen und darauf hingewiesen, dass Fritzi behindert ist. In der Arche hat das Team dann gesagt: Wir hatten zwar noch kein so schwer behindertes Kind, aber wir versuchen es.“ Auch den Müttern und Vätern der anderen Kinder haben die Duckwitz‘ im Vorfeld auf einem Elternabend von Fritzis Behinderung erzählt. Die Rückmeldungen bringen Silke Duckwitz noch heute zum Strahlen: „Sie haben gesagt, dass ihre Kinder auch nur davon profitieren können.“

Jolanthe-Spenden gehen an Verein „Rolli Rockers Sprösslinge“, der Fritzis Familie hilft

Kita-Leiterin Anja Hoffmann ist dieses Verständnis wichtig: „Jedes Kind ist gleich - und jedes bringt seine eigenen Möglichkeiten mit. Es müsste in viel mehr Kindergärten normal sein, dass behinderte Kinder dabei sind.“ Und Erzieherin Uschi Weitz meint: „Mit Blick auf die Inklusion ist es schade, dass sie die einzige ist.“ Was dieses sperrige Wort eigentlich bedeutet, füllen die Kinder prompt mit Leben. Es ist Essenszeit: Und schon geht der Wettstreit darüber los, welche Kinder beim Mittagessen mit Fritzi am selben Tisch sitzen dürfen.

Familien wie Fritzi sollen von unserer diesjährigen Jolanthe-Aktion von WAZ/NRZ profitieren, Familien, die der Verein „Rolli Rockers Sprösslinge“ unterstützt - ihm soll der Erlös aus der aktuellen Spendenaktion zugutekommen. Denn einiges an Therapien und Hilfsmitteln muss nicht nur Fritzis Familie selbst bezahlen. „Rolli Rockers Sprösslinge“ finanziert etwa die Hippotherapie für Fritzi. Das Spendenkonto ist freigeschaltet: Verwendungszweck „Rolli Rockers“, DE05 3625 0000 0175 0342 77, Sparkasse Mülheim.

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