Mülheim. Die vorgeschlagenen Wahlbezirksgrenzen werfen Fragen auf, meint Politikwissenschaftler Rainer Bovermann. Hat Mülheims Verwaltung falsch gerechnet?
Mülheim muss seine Wahlbezirke neu ordnen. Doch welche Auswirkungen hat das auf die Wahl und Demokratie? Im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Professor Rainer Bovermann.
Herr Professor Bovermann, Sie haben sich mit dem deutschen Parlamentarismus und den verschiedenen Formen politischer Beteiligung auseinandergesetzt, warum war es notwendig, die kommunalen Wahlbezirke zu überarbeiten?
Prof. Rainer Bovermann: Das ist eigentlich Routine. Vor jeder Wahl muss die Einteilung der Bezirke überprüft werden, weil es immer wieder demografische Entwicklungen und stadtinterne Wandlungsprozesse gibt. Dabei hat der Wahlausschuss zu beachten, dass Bezirke etwa gleich groß sein müssen. Im Zuge der Änderungen zur Stichwahl hat der Verfassungsgerichtshof 2019 festgelegt, dass die Unterschiede in der Größe nicht mehr als 15 statt 25 Prozent betragen dürfen. Entscheidender aber ist, dass nun im Einklang mit der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr die Einwohnerzahl des Bezirks, sondern diejenigen, die tatsächlich wählen dürfen, zur Grundlage genommen werden müssen.
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Wie ist diese Änderung aus wissenschaftlicher und demokratischer Sicht zu beurteilen?
Das kommt dabei heraus, wenn man das Wahlrecht den Juristen überlässt (lacht). Die Fokussierung auf Wahlberechtigte ist ein Paradigmenwechsel. Aus juristischer Sicht ergibt sich zwar ein gleicher Zählwert der Stimmen. Aus repräsentations- oder demokratietheoretischer Sicht ist dies aber ein Manko, weil man davon ausgeht, dass die Ratsmitglieder nicht nur die Wahlberechtigten vertreten, sondern für die Einwohner insgesamt da sind. Das geht auch daraus hervor, dass die Größe des Rates ja weiterhin über die Einwohnerzahl und nicht nur über die Wahlberechtigten bestimmt wird. Das ist also ein echter Bruch.
Wie gelungen ist dann - wissenschaftlich betrachtet - die Mülheimer Aufteilung, die politisch gerade heiß umstritten ist?
Die Beschränkung auf 15 Prozent Abweichung zwischen den Wahlbezirken ist grundsätzlich richtig, weil es bisher zwischen den Mülheimer Wahlbezirken Schwankungsbreiten von teils mehr als 1000 Wahlberechtigten gab. Der Wahlausschuss hat deshalb die Verpflichtung, die sechs kritischen Bezirke anzupassen. Wo immer man aber Wahlbezirksgrenzen verschiebt, hat das natürlich Auswirkungen auf die Direktwahl. Wer durch Direktwahl in den Rat einzieht, kann durch solche Verschiebungen beeinflusst werden.
Was mir für Mülheim auffällt: Die Anzahl von 27 Wahlbezirken beizubehalten, finde ich richtig. Aber die neue Aufteilung auf die drei Stadtbezirke entspricht nicht mehr der proportionalen Verteilung. Dafür gibt es Berechnungsverfahren. Demnach müsste Rechtsruhr Süd nur zehn statt elf Bezirke erhalten, Linksruhr käme auf neun, Rechtsruhr Nord könnte aber acht statt nur sieben Bezirke behalten. Dafür müsste man nur ein paar Straßen zwischen Dümpten Süd und Mellinghofen verschieben. Gerade im Norden geht es ums Eingemachte. Man fragt sich deshalb schon: Wie kommt die Verwaltung auf ihren Lösungsvorschlag?
Rainer BovermannRainer Bovermann
Rainer Bovermann habilitierte 1999 im Fach Politikwissenschaft und ist an der Ruhruniversität Bochum in unterschiedlichen Funktionen - unter anderem als außerplanmäßiger Professor - tätig. Für die SPD war der Hattinger von 2005 bis 2022 als Abgeordneter im Landtag NRW. Er ist weiterhin Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Welper und Blankenstein.
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