Mülheim. Junge Marokkaner wurden angeworben. Schwere Schichtarbeit prägte ihr Leben, doch: „Es war eine schöne Zeit.“ In Mülheim wurden sie jetzt geehrt.

Anfang der sechziger Jahre liefen Fabriken und Bergwerke in Deutschland noch auf Hochtouren - Arbeitskräfte wurden gesucht, junge Leute aus dem Ausland gezielt angelockt. Bekannt ist vor allem das Anwerbeabkommen mit der Türkei, das Ende Oktober 1961 geschlossen wurde. Knapp zwei Jahre später, am 21. Mai 1963, folgte ein Anwerbeabkommen mit Marokko, zunächst für die Zechen.

Viele der ehemaligen Gastarbeiter, die teils als Jugendliche ins Ruhrgebiet kamen, sind auch in Mülheim heimisch geworden. Heute, sechs Jahrzehnte später, sind sie Rentner, vielfach Großväter, blicken zurück. Der Marokkanische Kultur- und Sportverein (MKSV) hier in der Stadt hat die Veteranen jetzt mit einer Feier geehrt. Das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Marokko habe „zur Weiterentwicklung in Mülheim an der Ruhr beigetragen“, meint der Vereinsvorsitzende Ahmed Gassa. Wie sehen es die Senioren selber?

Gastarbeiter der ersten Stunde werden in Mülheimer Moschee geehrt

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Ein Kreis grau- bis weißhaariger Herren ist in der marokkanischen Arrahma Moschee an der Mülheimer Aktienstraße zusammengekommen, sitzt bei klarem Wasser am Tisch. Einigen fällt das Gehen sichtlich schwer, einige müssen sich auf einen Stock stützen. Die steile Treppe zum Veranstaltungsraum in der zweiten Etage zu erklimmen, hat Zeit und Mühe gekostet. Diesen Männern im Alter zwischen Mitte 70 und Anfang 80, geboren in Fes oder in ostmarokkanischen Dörfern, stecken Jahrzehnte schwerer Schichtarbeit in den Knochen.

Mohamed Khallouki, der erst in der Textilindustrie begann, ehe er in ein Mülheimer Stahlwerk wechselte, bringt es leicht überspitzt auf den Punkt: „Ich habe 100 Jahre bei Mannesmann gearbeitet.“ Auf dem Papier waren es etwa 40 Jahre, doch er zählt die Doppelschichten und Überstunden mit. „Meine Frau hat sich damals schon beschwert, dass ich nie zu Hause war.“ Nur zwei Mal sei er krank gewesen, ein Mal für sechs Wochen in Kur. „Und ich war keinen einzigen Tag arbeitslos.“

Kaum krank, nie arbeitslos - die ehemaligen Stahlarbeiter sind stolz darauf

Nie ausgefallen zu sein, das nehmen die ehemaligen marokkanischen Gastarbeiter für sich in Anspruch, sie betonen es stolz. „Es hat auch mit der Arbeitseinstellung zu tun“, glaubt Ahmed Gassa, Gastgeber der Feier und Vorsitzender des MKSV. „Wo gibt es das heute noch?“ Die stetige Schrumpfung der Industriestätten in Mülheim nehmen die Veteranen wehmütig zur Kenntnis, gerade auch die bevorstehende Schließung des Vallourec-Werkes, in dem einige von ihnen lange Jahre gearbeitet haben. Mohamed Khallouki hat noch die Schichtwechsel früherer Zeiten vor Augen, als Tausende über das Gelände wimmelten. Nun wurde Ende August das letzte Rohr gefertigt, die Demontage der Maschinen steht an, zum Jahresende macht Vallourec in Mülheim endgültig dicht. „Es ist schade für die jungen Leute“, sagt Khallouki.

Jamil Guerbouj (Mitte) der ebenfalls in den sechziger Jahren über das Anwerbeabkommen nach Deutschland kam, stammt aus Tunesien. Er hat lange bei Mannesmann in Mülheim gearbeitet.
Jamil Guerbouj (Mitte) der ebenfalls in den sechziger Jahren über das Anwerbeabkommen nach Deutschland kam, stammt aus Tunesien. Er hat lange bei Mannesmann in Mülheim gearbeitet. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Er und seine Kollegen lebten noch weitgehend das traditionelle Familienmodell, bei dem allein die Männer berufstätig sind, während die Frauen im Hintergrund bleiben. Bei einigen der Senioren klingt es durch: „Ich habe meiner Frau gesagt: ,Bleib zu Hause für unsere Kinder. Ich verdiene genug’“, erzählt einer der Männer. Die Frauen der ehemaligen Gastarbeiter waren bei der Ehrung gar nicht dabei. Für sie soll es eine eigene Feierstunde in der Moschee geben, berichtet Ahmed Gassa.

„Halbe Deutsche“, doch als Rentner häufig im Heimatland

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Ein gebürtiger Tunesier sitzt mit in der Runde, der er freundschaftlich verbunden ist: Jamil Guerbouj, ebenfalls Mannesmann-Veteran, „seit 50 Jahren mit einer Deutschen verheiratet“, wie er erwähnt. „Das sind alles halbe Deutsche“, sagt Ahmed Gassa über die Gäste. Insgesamt wurden 13 Gastarbeiter der ersten Stunde persönlich geehrt, sechs weitere ließen sich von ihren Kinder oder Enkeln vertreten. Einige seien gerade im Heimatland, sagt Gassa: „Die Rentner reisen oft für mehrere Monate nach Marokko.“

Moschee öffnet ihre Tür

Die marokkanische Arrahma Moschee in Mülheim, Aktienstraße 43, beteiligt sich wieder am Tag der offenen Moschee am Dienstag, 3. Oktober. Er steht unter dem Motto: „Das Gebet - besinnt, belebt, verbindet“.

Von 12 bis 16 Uhr sind alle Mülheimerinnen und Mülheimer eingeladen zu offenen Gesprächen und dem Mittagsgebet. Eine Moscheeführung ist für 14 Uhr geplant.

Einige leben in Mülheim mittlerweile in Eigentumswohnungen, die Kinder haben studiert oder solide Ausbildungen erfolgreich abgeschlossen. Die meisten finden: Ihre Rente reicht aus. „Die Gastarbeiter der ersten Generation hatten eine Doppelfunktion“, meint Ahmed Gassa, „sie haben etwas für Deutschland getan und zugleich für Marokko, denn auch dort haben sie ihre Familien unterstützt.“ Im Rückblick waren es Jahrzehnte schwerer Arbeit, fasst Mohamed Khallouki zusammen - „aber eine schöne Zeit“.

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