Mülheim. In der Jugendhilfe mangelt es an Plätzen, auch in Mülheim. Die tägliche Arbeit leidet stark unter dem Trend. Ein Bereich ist besonders betroffen.
Auch wenn es nackte Zahlen sind, schwarz auf weiß, so steckt doch hinter jeder von ihnen ein Schicksal. Geprägt von Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung müssen Woche für Woche etliche Kinder aus ihrem eigentlichen Umfeld gerissen werden – und das zu ihrem eigenen Schutz. Allein für das laufende Jahr verzeichnet Kommunale Soziale Dienst (KSD) der Stadt 70 Inobhutnahmen bis August, im vergangenen Jahr waren es insgesamt 114. Die Zahl der verfügbaren Plätze liegt aber weit unter dem tatsächlichen Bedarf.
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„Eigentlich befinden wir uns in einer permanenten Akut-Lage“, fasst KSD-Leiterin Martina Wilinski (57) das zusammen, was sich derzeit bundesweit als negativer Trend abzeichnet. „Beide Einrichtungen, sowie weitere Jugendhilfeeinrichtungen in der Region sind seit Monaten ausgelastet.“ In kaum einer Kommune gibt es genügend Plätze, um in Obhut genommene Kinder aufzunehmen und zu betreuen. Das hat weitreichende Konsequenzen. „Gerade an Wochenenden oder nachts ist es besonders schwierig“, sagt Martina Wilinski. „Erst neulich hatte ich einen Fall, für den ich 50 Einrichtungen abtelefoniert habe.“ Dass es bei Inobhutnahmen auch mal über die Stadtgrenzen hinaus geht, sei keine Seltenheit. „Aber mittlerweile sprechen wir schon von anderen Bundesländern.“
Mülheimer Jugendhilfe sucht nach Notlösungen für Betroffene
Ideal sei das nicht, keine Frage – im Zweifel und in Anbetracht der Umstände oftmals aber die beste Lösung. Ein Vorgehen, das auch Christian Weise aus seinem beruflichen Alltag kennt. Der 61-Jährige leitet das Raphaelhaus an der Voßbeckstraße. In drei Wohngruppen werden dort insgesamt 20 Kinder und Jugendliche betreut – „das geht vom Schulalter bis hin zu jungen Erwachsenen“. Hinzu kommt eine siebenköpfige Jugendintensivgruppe auf der Heimaterde. Jeden Tag, so der Einrichtungsleiter, erhalte er Anfragen aus ganz Deutschland, ob es nicht noch Kapazitäten gebe. „Gestern waren es sechs, im Schnitt so vier bis sieben.“
Zwar stehe man im Vergleich zu anderen Einrichtungen noch gut da, man habe keine Teile schließen müssen, doch der lang geplante Aufbau einer Inobhutnahmestelle liegt vorerst auf Eis. „Das ist aktuell nicht möglich. Es fehlt uns dafür an Personal und das bei einem Bedarf, der immer weiter steigt.“ Im Raphaelhaus sind laut Weise derzeit etwa 70 Prozent der untergebrachten Kinder und Jugendlichen aus Mülheim. In den Regelwohngruppen kommen auf eine Betreuerin oder einen Betreuer 1,8 Schützlinge, in der Intensivgruppe liegt der Schlüssel bei 1:1.
Mülheim muss 91 minderjährige, unbegleitete Geflüchtete aufnehmen
Unter den betreuten Kindern und Jugendlichen seien derzeit sieben minderjährige Geflüchtete, die ohne Begleitung in Deutschland angekommen sind. „Eigentlich wollten wir nur eine unbegleitete Person pro Gruppe aufnehmen“, schildert Weise. „Einfach weil die Bedarfe da ganz andere sind und das mehr Kapazitäten bindet.“ Neben der pädagogischen Arbeit falle in der Regel ein Wust an Bürokratie an – ein echter Zeitfresser.
Ähnlich wie bei der regulären Verteilung von Geflüchteten auf Kommunen unterliegen auch die minderjährigen Unbegleiteten einer Quote. „Derzeit“, so KDS-Leiterin Martina Wilinski, „haben wir in Mülheim 87 unbegleitete, minderjährige Geflüchtete untergebracht. Unsere Quote liegt bei 91.“ Die Lage sei in diesem Bereich sehr dynamisch, „wir haben eigentlich täglich ein bis zwei neue Fälle.“
Abgesehen von diesem Bereich habe sich die Jugendhilfe in den vergangenen Jahren enorm gewandelt. „Die Lebenslagen werden immer prekärer und komplexer“, sagt Wilinski, die im Bereich der Inobhutnahmen beim KSD eigentlich 46 Stellen zur Verfügung hätte – ein Drittel davon sei aktuell aber unbesetzt.
Mülheimer Einrichtungsleiter ist alarmiert: „Die Arbeit hat sich verändert“
Neben den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen habe Corona die Herausforderungen erhöht. „Die Auswirkungen sind spürbar. Viele Kinder haben unter dieser Zeit gelitten und es fehlt an Therapieangeboten für sie.“ Aber auch die Zahl der Bereitschaftspflegefamilien habe mit der Pandemie stark abgenommen. „Wir haben aktuell fünf Familien, die acht Kinder betreuen können. So wenig wie schon lange nicht mehr.“
Auch im Raphaelhaus beobachtet Christian Weise starke Veränderungen der inhaltlichen Arbeit, die er auf die Pandemie zurückführt. „Die Arbeit hat sich so stark verändert, aber unsere Ressourcen bleiben gleich.“ Aus seiner Sicht funktioniere das System nicht mehr, zu viele Risse und Lücken. Es fehle an Diagnostik, Prävention, aber auch an bedarfsorientierter Betreuung nach der Inobhutnahme. „Im Zweifel bleibt ein Kind so viel länger in Betreuung als es müsste, weil es nicht seinen Bedürfnissen entsprechend untergebracht wird.“ Gerade Einrichtungen mit Spezialisierungen seien oft überlaufen. „Mir tut es um jedes Kind leid, für das wir keine Lösung finden.“
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