Mülheim. Vor 100 Jahren war Einkaufen der Horror. Doch der Mülheimer Industrielle Hugo Stinnes nutzte die irrwitzige Inflation, um ein Imperium zu bauen.

Krieg entwertet unser Geld. Die Folgen des Ukraine-Kriegs zeigen es. Doch während wir heute eine Inflation mit durchschnittlichen Preissteigerungen unter der Zehn-Prozent-Marke erleben, mussten unsere Großeltern und Urgroßeltern vor 100 Jahren Hyperinflationsraten zwischen 7000 und 999.000 Prozent erleiden.

Damals war Einkaufen der absolute Horror. Im Juli 1923 kostete ein Brot 5000 Mark und im November 1923 schon 260 Milliarden Mark. Da wurde nicht nur der Einkauf unkalkulierbar, obwohl die Löhne seinerzeit täglich ausgezahlt wurden und ein Arbeiter durchschnittlich 3,2 Milliarden Mark am Tag verdiente. Ab Juli 1923 ließ die Stadt Mülheim eigenes Notgeld drucken.

Mülheims Industrieller Hugo Stinnes kaufte kriselnde Unternehmen

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Anders als Otto Normalverbraucher machte das Einkaufen dem damals 53-jährigen Industriellen Hugo Stinnes immer mehr Spaß. Der damals größte Arbeitgeber Deutschlands sah sich selbst als „Kaufmann aus Mülheim“. Seine Zeitgenossen bezeichneten ihn als „König von der Ruhr“ und „neuen deutschen Kaiser“, „der Firmen sammelt wie andere Leute Briefmarken“. Kriselnde Unternehmen, bevorzugt aus den Bereichen Rohstoffe, Energie und Handel, kreditfinanziert zu kaufen, zu sanieren und wieder rentabel zu machen - das war die Erfolgsgeschichte des Unternehmers Stinnes, der 1923 als Abgeordneter der liberalen Deutschen Volkspartei auch im Reichstag saß.

Er hatte aus seiner 1892 mit einem Mitarbeiter gegründeten Hugo Stinnes GmbH innerhalb von 30 Jahren einen international und branchenübergreifend agierenden Konzern gemacht, der mehr als 1500 Unternehmen umfasste. Stinnes war angesehen. In seiner Heimatstadt Mülheim war er ab 1904, nach August Thyssen, der größte Steuerzahler. Doch vor 100 Jahren hatte er als „Inflationskönig“ ein Imageproblem. Wie kam es dazu?

Widerstand im Ruhrgebiet gegen französische Militärregierung

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Fünf Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hatte der Kriegsverlierer Deutschland Kriegsschulden von 164 Milliarden Mark und Reparationslasten von 132 Milliarden Mark zu tragen. Hinzu kamen zwischen Januar und Oktober 1923 Lohnausfallkosten in Höhe von täglich 40 Millionen Mark. Das Geld wurde fällig, weil die Reichsregierung die Menschen im Ruhrgebiet zum passiven Widerstand gegen die französische Militärregierung aufgerufen hatte. Allein in Mülheim waren damals 1300 französische Soldaten stationiert. Auch Hugo Stinnes finanzierte Sabotageakte gegen das Reparations- und Besatzungsregime.

Doch die Zeche mussten die deutschen Steuerzahler zahlen. Auch in Mülheim hieß es 1923: „Siehst du eine Kiste stehen, lass dich nieder. Der passive Widerstand, der kommt nie wieder.“ Am 26. September 1923 musste die Reichsregierung den passiven Widerstand aus finanzpolitischen Gründen abbrechen. Die Mark war nicht mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurde. War der 1000-Mark-Schein 1922 noch das Höchste der finanziellen Gefühle, so mussten es im November 1923 schon 4,2 Billionen Mark sein, um einen US-Dollar zu bekommen.

Mülheimer Stinnes-Imperium basierte auf Pump

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Das war kein Problem für Hugo Stinnes. Schon 1922 machte er deutlich, dass ihm die Entwertung der Mark gelegen kam. Denn sein Firmenimperium basierte auf Pump. Je schwächer die Mark wurde, desto billiger konnte Stinnes seine Kredite bedienen und seine Löhne zahlen. 1923 machte sich der „Inflationskönig“ ganz schnell ganz reich, indem er sein Kapital massenhaft in Dollar, Pfund, Franken und Gulden umtauschte. Gleichzeitig zögerte er die Begleichung seiner Verbindlichkeiten in schwacher Mark möglichst lange hinaus, um den Ertrag seiner Währungsspekulation zu optimieren. Wenn er dann seine starken Fremdwährungen wieder in die noch schwächer gewordene Mark umtauschte, finanzierten sich seine Kredit- und Lohnzahlungen fast wie von selbst.

Erst mit der Einführung einer neuen Währung, der sogenannten Rentenmark, am 15. November 1923 machten Reichsregierung und Reichsbank Hugo Stinnes einen Strich durch die Rechnung und lenkten das Wirtschaftsleben wieder in kalkulierbare Bahnen.

Erben gewarnt: „Meine Kredite sind Eure Schulden“

Mitte 1924 konnte die neue Reichsmark als Zahlungsmittel der ersten Wahl an die Stelle der Renten- und Papiermark treten. Damals war Hugo Stinnes bereits tot. Am 10. April war er an den Folgen einer misslungenen Gallenblasenoperation in Berlin gestorben. „Denkt daran, dass meine Kredite Eure Schulden sind“, hatte Stinnes seine Kinder und Erben Clärenore, Hugo junior und Edmund gewarnt. Er riet ihnen, den Konzern durch Firmenverkäufe gesundzuschrumpfen und auf sein Kerngeschäft zu begrenzen.

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