Essen. Die Ausstellung „Hände weg vom Ruhrgebiet!“ auf der Welterbe-Zeche Zollverein zeigt viele Facetten des französisch-belgischen Einmarschs.

Als am Tag vor genau 100 Jahren französische Kavallerieeinheiten und Panzerverbände, die morgens in Düsseldorf aufgebrochen waren, zusammen mit einer Fahrradeinheit der Belgier aus Duisburg

Bewachung eines mit Kohlebriketts beladenen Güterzugs durch einen französischen Posten, Ende Januar 1923.
Bewachung eines mit Kohlebriketts beladenen Güterzugs durch einen französischen Posten, Ende Januar 1923. © Haus der Essener Geschichte / Stadtarchiv [02.0137] | Ruhr Museum

gegen 14 Uhr den Essener Burgplatz besetzten und dort ein Maschinengewehr Hotchkiss M1914 martialisch aufbauten, begann die Ruhrbesetzung: Die Besatzungsmächte wollten jene Kohle-Lieferungen erzwingen, die ihnen nach dem Versailler Vertrag zwar zustanden, von deutscher Seite aber verwehrt wurden. Die Gesamtsumme der Reparationen von 132 Milliarden Goldmark war zu einem erheblichen Teil in Sachleistungen wie Kohle umgewandelt worden. Als Reaktion auf die Ruhrbesetzung aber rief die Reichsregierung in Berlin für das Revier den „passiven Widerstand“ aus, einen Generalstreik, den vom Bergmann bis zum Oberbürgermeister alle befolgen sollten.

Damit stand das Ruhrgebiet erstmals als gesamte Region im Scheinwerferlicht der (internationalen) Öffentlichkeit, „Ruhrbesetzung“ wurde zum meistgebrauchten Wort des Jahres 1923, und es ist im Grunde die Geburtsstunde des Ruhrgebiets als Begriff und Einheit – zuvor war immer nur vom „rheinisch-westfälischen Kohlenbezirk“ die Rede (für den das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk ja auch den Strom produzierte). Dieser nicht unproblematischen Geburt, die mit einer deutschlandweiten Welle von Nationalismus, Revanchismus und Rassismus verbunden war, widmet das Ruhrmuseum nun auf der 21-Meter-Ebene der Kohlenwäsche auf Zeche Zollverein eine kompakte, facettenreiche, beeindruckende Ausstellung: „Hände weg vom Ruhrgebiet!“

Energie, Erpressung, Infrastruktur und Inflation – spielten schon damals eine Rolle

Ruhrmuseums-Chef Theo Grütter räumte ein, man habe dem Jubiläum des Ereignisses ursprünglich keine erhöhte Aufmerksamkeit schenken wollen; aber nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine, in dessen Verlauf Energie, Erpressung, Infrastruktur und nicht zuletzt Inflation eine immer größere Rolle spielten, seien viele Parallelen sichtbar geworden.

Die Inflation hatte die Reichsregierung allerdings schon vorher angeschoben, nicht zuletzt, um die Reparationsforderungen bedienen zu können. Diese seien zwar hart gewesen, aber nicht unberechtigt: „Die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs“, betont Theo Grütter, „lagen in Belgien und Frankreich. Das sind zum Teil noch heute verwüstete Landschaften. Diese Killing Fields waren auf Jahre hinaus unbrauchbar geworden. Und auf ihrem Rückzug hatten die Deutschen die Zechen in den besetzten Gebieten geflutet und damit unbrauchbar gemacht.“ In Frankreich habe 1923 Arbeitslosigkeit und Energiemangel geherrscht, in Deutschland Vollbeschäftigung.

Der heimliche Motor: Hugo Stinnes

Deutsches Propagandaplakat, 1923.
Deutsches Propagandaplakat, 1923. © Ruhrmuseum

Bis zum 16. Januar 1923 war das Ruhrgebiet von Moers bis Dortmund/Kamen komplett besetzt; frühzeitig rollten dazu auch furchterregende Panzer an – jene 1916 erfundenen „Tanks“, die nicht unwesentlich geholfen hatten, den Ersten Weltkrieg zu beenden, indem sie zur wirksamen Waffe gegen den zermürbenden Stellungskrieg geworden waren.

Die Reichsregierung sicherte allen, die sich im passiven Widerstand am Streik beteiligten, die Fortzahlung ihrer Gehälter zu. Das machte aus der Inflation, die ohnehin schon herrschte, binnen weniger Monate eine Hyper-Inflation, an deren Ende im November 1923 für einen Dollar 4,2 Billionen Mark gezahlt wurden. Diese Inflation, die erst mit der Einführung der Rentenmark im November 1923 endete, traf die Lohnabhängigen, deren Gehalt oft schon am Ende der Woche nur noch die Hälfte wert war, deutlich härter als die Besitzenden, sofern sie ihr Geld in Immobilien, Wertgegenständen, Firmenanteilen oder Industrieanlagen investiert hatten. Aus dem Ruhrgebiet wurde 300.000 hungernde Arbeiterkinder auf Bauernhöfe in ganz Deutschland geschickt, damit sie sich sattessen konnten. Es kam zu Hungerrevolten. Kommunisten versuchten, sie zu einer Revolution eskalieren zu lassen, scheiterten aber mit ihren Vorhaben.

Ein Konzern für Kohle, Zeitungen, Speditionen, Hotels und Theater

Plakat der Kultur-Liga gegen die Ruhrbesetzung,
Plakat der Kultur-Liga gegen die Ruhrbesetzung, © bpk | Deutsches Historisches Museum

Der größte Profiteur der Ruhr-Besetzung aber war der Industrielle Hugo Stinnes, dessen Bedeutung auch Ruhrmuseums-Chef Theo Grütter erst im Zuge dieser Ausstellung erkannt hat: „Der war sechsmal so groß wie Krupp und dreimal so groß wie Thyssen!“ Vor allem aber verfolgte er als Konzern-Strategie die „vertikale Integration“, das heißt: Er, dessen Schulden und Kredite mit jedem Tag Inflation immer bedeutungsloser wurden, arrondierte seine Industrie-Unternehmen um Betriebe der vor- und der nachgelagerten Produktion, so dass immer größere Teile ganzer Branchen in seiner Hand waren – bis hin zu Presse-Publikationen und Hotels wie den Berliner Nobelherbergen Excelsior und Esplanade, dem Atlantis in Hamburg, dem Nassauer Hof in Wiesbaden und dem Kurhaus Travemünde, aber auch dem Thalia-Theater in Elberfeld. Die Beschäftigten des Stinnes-Konzerns, zu dem auch die Gelsenkirchener Bergwerks AG mit ihrer Zeche Zollverein gehörte, wurden übrigens „Stinnesen“ genannt.

Überhaupt, so Grütter, sei die Industrie für den passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung weit wichtiger als die Berliner Reichsregierung, Stinnes trieb sie, vor allem unter dem politisch unerfahrenen Reichskanzler Wilhelm Cuno, ständig vor sich her.

„Karnaper Lumpen“ und denunzierte „deutsche Mädels“

Das Ruhrgebiet selbst wurde indes von einer wahren Welle des Nationalismus erfasst. Die Beteiligung am Generalstreik war hoch, Streikbrecher („Karnaper Lumpen“) wurden auf Flugblättern, die in der Ausstellung zu sehen sind, genauso denunziert wie Erna Schürmann und Änne Paschinski aus Steele, die sich zusammen mit einem französischen Soldaten hatten fotografieren lassen („Sind das deutsche Mädels?“ – „Merkt sie Euch!“). Viele Plakate gegen die Besatzung waren aber auch rassistisch, obwohl die Franzosen in ihrer Besatzungsarmee kaum Afrikaner geschickt hatten; dennoch war die „französische Gefahr“ nicht selten dunkelhäutig (und frauenräuberisch), und das nicht nur im Revier, sondern auch deutschlandweit in vermeintlich kritischen Satire-Blättern wie „Simplicissmus“ und „Kladderadatsch“.

Fast alle Bahnangestellten im Revier weigerten sich, für die Franzosen zu arbeiten, der „Reichsbahn-Lokomotivführeranwärter“ Fritz von der Höh in Wanne wurde dafür sogar von den Franzosen erschossen – und bekam später eine prunkvolle Gedenktafel.

Die Karriere von Hans Luther und der Kelch von Etienne Bach

"Schweizer Illustrierte Zeitung" zum Einmarsch belgischer und französischer Truppen in das Ruhrgebiet, 20. Januar 1923. © RuhrMuseum

Die Essener Ausstellung zeigt nicht nur das französische Hotchkiss-MG (wofür eine Einfuhrgenehmigung nach dem Kriegswaffen-Kontrollgesetz nötig war) und ein belgisches Militärfahrrad, sondern auch den Schreibtisch von Hans Luther, der 1923 Oberbürgermeister von Essen und Landwirtschaftsminister der Reichsregierung war. Für seine weitere politische Karriere war die Weigerung, den französischen General Guillaume vor dem Rathaus zu begrüßen, wo eine Schar von Fotografen wartete, ein derart kräftiger Schub, dass er 1925 Reichskanzler wurde – in jenem Jahr, in dem die Ruhrbesetzung endete.

Postkarten französischer Soldaten gehören auch zur Ausstellung; in ihnen spiegelt sich, dass sie bis zum Ende der Ruhrbesetzung vor Ort mal unfreundlich, mal aber auch sehr menschlich aufgenommen wurden. Der Offizier Etienne Bach aus Elsass-Lothringen, der in Datteln stationiert war, feierte in der dortigen Lutherkirche während der Ruhrbesetzung mit Deutschen ein österliches Abendmahl. Zur Erinnerung daran stiftete er 1963 jenen Abendmahlskelch, mit dem die Ausstellung endet.