Mülheim. Urkunden, die nach Jahren auftauchen, geheime Zeugnisse oder Briefe, die privat sind: Wir haben einen Einblick in Mülheims Stadtarchiv bekommen.
Stadtarchiv und Spannung – diese beiden Begriffe wird nicht gleich jeder miteinander in Verbindung bringen. Und doch kommt der Besuch des Stadtarchivs im Haus der Stadtgeschichte an der Von-Graefe-Straße einer spannenden Zeitreise gleich, bei der man historische Schätze entdecken kann. Der Leiter des Stadtarchivs Dr. Stefan Pätzold und sein Stellvertreter Jens Roepstorff begeben sich mit dieser Zeitung auf eine solche Entdeckungstour durch das Magazin des Archivs, wo das auf Papier dokumentierte kollektive Gedächtnis der Stadt Mülheim, immer schön dunkel, vor dem Tageslicht geschützt, und bei optimalen Raumtemperaturen aufbewahrt wird.
Mülheims älteste Urkunde
Als ältestes Dokument des Stadtarchivs stellt uns Archivleiter Dr. Stefan Pätzold eine mit Tinte und Federkiel kunstvoll auf Pergament geschriebene Urkunde von 1221 vor. Die 49,5 Zentimeter breite und 29 Zentimeter hohe Urkunde, die das Stadtarchiv seit 1974 als Leihgabe der Pfarrgemeinde St. Mariä Himmelfahrt verwahrt, ist für ihr Alter erstaunlich gut erhalten. Sie beurkundet eine Waldschenkung an das kurz zuvor gegründete Kloster Saarn, in dem bis 1808 Zisterzienserinnen beteten und arbeiteten.
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Die in Latein verfasste Schenkungsurkunde berichtet, dass der Kölner Erzbischof Engelbert 1216 bei der Einweihung des Klosterfriedhofes sinngemäß und salopp gesagt habe, dass die Saarner Klosterfrauen arm wie die Kirchenmäuse waren. Deshalb drängte er vermögende Grundbesitzer zu der Schenkung an das Saarner Kloster, indem er sie ermahnte, auf diese Weise zur Sicherung ihres Seelenheils beizutragen.
Mülheims erste Zeitungsausgabe
Auch die alten Mülheimer wollten gut informiert sein. Das zeigt uns Jens Roepstorff, indem er eine DIN A5-große Kladde aus dem Jahr 1797 aufschlägt. Darin befindet sich der allererste Jahrgang der Mülheimer Zeitung.
„Mülheimer Zeitung – von Kriegs- und Staatsgeschäften“ lesen wir im Titelkopf. Ihre erste Ausgabe im neuen Jahr 1797 beginnt die Mülheimer Zeitung vom Januar mit einem Gedicht, in dessen ersten Versen es heißt: „Blutig und schrecklich verfloss, durch Ströme von Tränen begleitet, das nun vergangene Jahr. Ach! Die Menschheit bebt und erschaudert zurück vor dem Dunkel, welches die Zukunft bedeckt!“
Man sieht: Zukunftsängste angesichts unsicheren Kriegs und Krisenzeiten sind nichts Neues. Schon ab der zweiten Ausgabe lässt ihr Herausgeber, der Buchdrucker Gerhardt Wilhelm Blech, die Mülheimer Zeitung, zweimal wöchentlich, mit dem etwas weniger martialischen Untertitel „von neuesten Begebenheiten“ erscheinen.
Mülheims wohl berühmtester Künstler war geboren!
Mit dem nächsten Archivschatz, den uns Pätzold in Form eines Amtsregisters anno 1893 aus dem Magazin holt, werden wir weltlich, bleiben aber in Saarn. Dort beurkundet ein Standesbeamter der Landbürgermeisterei unter dem 10. Juni des Jahres, dass dem Medizinalrat Dr. Eduard Pankok und seiner Frau Maria (geborene Frühling) am 6. Juni vormittags um halb 12 in Saarn ein Sohn namens Georg Karl Otto geboren worden ist, den wir heute als berühmten Künstler und Namenspatron der Schule kennen, an der er selbst 1912 das Abitur abgelegt hat. „Der heutige Stadtteil Saarn gehörte 1893 zur damals noch eigenständigen Landbürgermeisterei Broich“, erklärt uns der Stadtarchivleiter den historischen Zusammenhang. Interessant: Auf der Geburtsurkunde Pankoks sind auch sein Hochzeitstag (14. April 1921) und sein Todestag (20. Oktober 1966) verzeichnet.
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Grundsteinlegung von Mülheims Synagoge
Mit Jens Roepstorff gehen wir im Magazin des Stadtarchivs einige Schritte von 1893 ins Jahr 1905. Er öffnet einen langen, schmalen Karton, in dem eine auf den 21. September 1905 datierte Pergament-Urkunde liegt. In deutscher und hebräischer Sprache berichtet die Urkunde von der Grundsteinlegung des 1907 vollendeten Synagogen-Baus am Viktoriaplatz, der heute Synagogenplatz heißt.
Dort, wo die am 9. November 1938 vom damaligen Feuerwehrchef Alfred Freter im Auftrag der NS-Machthaber in Brand gesetzte Synagoge stand, steht seit 2009 das Medienhaus, an dessen unterer Frontseite ein Relief an die Synagoge erinnert. „Diese Urkunde war zusammen mit einer Tageszeitung vom 21. September 1905 in den Eckstein des am 2. August 1907 eingeweihten jüdischen Gotteshauses eingemauert worden. Diese Urkunde kam auf einem heute nicht mehr nachvollziehbaren Weg ins Stadtarchiv, wo sie 1999 im Magazin entdeckt wurde“, weiß Roepstorff zu berichten.
Mülheims Rennfahrerin Clärenore Stinnes
Wir gehen mit Stefan Pätzold im Magazin des Stadtarchivs vom Jahr 1905 ins Kriegsjahr 1917 und schlagen mit ihm eine Kladde auf, in der Abgangszeugnisse der 1892 gegründeten Luisenschule gebunden sind. Der Leiter des Stadtarchivs schlägt die Seite mit dem Abgangszeugnis von Clärenore Stinnes auf, die in den Jahren 1927 bis 1929 als erster Mensch mit einem Auto die Erde umrunden wird. Ihr Reisebegleiter, der schwedische Fotograf Carl-Axel Söderström, wird 1930 ihr Ehemann. Das Paar lebt auf einem Landgut ihres Vaters, des Mülheimer Großindustriellen und Großunternehmers Hugo Stinnes (1870-1924), der sich selbst untertreibend als „Kaufmann aus Mülheim“ bezeichnet.
Bis zu seinem Tod ist Clärenore Vertraute und Assistentin des Vaters. Doch nach seinem Tod verweigert ihr die Mutter den Eintritt in die Unternehmensleitung. In ihrem Zeugnis wird uns Clärenore Stinnes als Tochter des Kaufmanns Hugo Stinnes vorgestellt, die am 21. Januar 1901 in Mülheim geboren ist und vom Herbst 1912 bis Ostern 1917 das Lyzeum der Stadt Mülheim besucht hat. Erst 56 Jahre nach Clärenore Stinnes‘ Schulentlassung, 17 Jahre vor ihrem Tod, nimmt die Luisenschule auch Schüler auf. Ironie der Geschichte: Während Clärenores Abgangszeugnis ihr gute Noten in Englisch und Deutsch bescheinigt, bekommt die Frau, die später in einem Adler-Standard-6-Automobil die Erde umfahren wird, in Erdkunde eine Fünf.
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Flugblätter geben Aufschluss über Nazi-Verbrechen
Während Clärenore Stinnes die Welt mit friedlicher Abenteuerlust durchfuhr, ließ Adolf Hitler ab 1939 Deutschlands Nachbarn in einem Angriffskrieg von der Wehrmacht überfallen. In diese dunkle Zeit führt uns Archivar Jens Roepstorff mit einem Flugblatt, das die britischen und amerikanischen Flugzeuge 1944 und 1945 über unserer Stadt abwarfen. „Es ist ein in deutscher und englischer Sprache verfasster Passierschein, der vom alliierten Oberkommandierenden General Dwight D. Eisenhower unterzeichnet worden ist und allen deutschen Soldaten, die von der Wehrmacht desertieren, sicheres Geleit, gute Versorgung, medizinische Behandlung und eine baldige Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft verspricht.
Dieses und andere Flugblätter haben wir als Nachlass des gebürtigen Speldorfers Karl-Heinz Schauenburg bekommen“, berichtet Roepstorff. Auch in dieser Zeitung hat der 1929 geborene und 2019 verstorbene Karl-Heinz Schauenburg davon berichtet, wie er als Schüler während des Krieges alliierte Flugblätter heimlich sammelte und versteckte, und so erstmals von den Verbrechen erfuhr, die im Namen der NS-Ideologie und im Namen Deutschlands begangen wurden. Auf einem dieser Flugblätter, so Schauenburg, wurde der damalige Reichsstatthalter von Dänemark, Werner Best, mit den Worten zitiert: „Vernichtung fremden Volkstums widerspricht den Lebensgesetzen nicht, wenn sie vollständig geschieht.“ Umso mehr war Schauenburg entsetzt, als er später davon erfuhr, dass dieser Werner Best nach dem Krieg in Mülheim wohnte und als Justiziar bei Stinnes gearbeitet hatte.
Kriegsende in Mülheim: 1945 kamen die Amerikaner
Archivleiter Stefan Pätzold präsentiert ein Foto, das das Kriegsende in Mülheim dokumentiert, indem es amerikanische Soldaten der 79. US-Infanteriedivision auf der Schloßstraße zeigt. „Dieses Bild, das von dem Mülheimer Wilhelm Neuhoff am 11. April 1945 gemacht worden ist, obwohl es damals verboten war, Soldaten zu fotografieren, ist eines von sehr wenigen Fotos, das wir von dem Tag haben, an dem in unserer Stadt der Krieg zu Ende ging“, erklärt Pätzold. Bei ihrem Einmarsch in die Innenstadt waren bei einem Schusswechsel am Dickswall noch einmal amerikanische und deutsche Soldaten gestorben.
Die GIs waren in Mülheim nur die militärische Vorhut der britischen Rheinarmee, die am 5. Juni 1945 als Besatzungsmacht und Militärregierung, die die Befehlsgewalt und Verantwortung für eine Trümmerstadt mit 88.000 Einwohnern übernahm, auf deren Straßen nach 160 Luftangriffen 800.000 Kubikmeter Schutt lagen. Erst 1953 wurde Mülheim für „trümmerfrei“ erklärt.
Post von Otto Pankok
Wir kommen noch einmal auf den 1893 in Saarn geborenen Maler, Grafiker und Bildhauer Otto Pankok zurück und gehen mit Jens Roepstorff ins Jahr 1945. In einer städtischen Aktenmappe wird ein Brief Pankoks an die Ehefrau des damals von der britischen Militärregierung abgesetzten und internierten, aber später wieder in sein Amt eingesetzten Oberbürgermeister Edwin Hasenjaeger (1888-1972) aufbewahrt. Unter dem 24. September 1945 schreibt Pankok an seine Adressatin: „Sobald ich von Ihrem Unglück in Mülheim erfuhr, habe ich Ihnen diesen Brief geschrieben. Wenn ich etwas unternehmen kann, dann will ich es tun. Bitte, teilen Sie mir mit, ob von anderer Seite etwas unternommen worden ist. Machen Sie von meinem Brief Gebrauch, wie Sie es für richtig halten!“
In einem mit Schreibmaschine verfassten Brief an die britische Militärregierung, dem Pankoks handschriftlicher Brief beiliegt, setzt sich Otto Pankok für die Freilassung und politische Rehabilitation Hasenjaegers ein. Er weist darauf hin, dass ihn Hasenjaeger in der Zeit des Nationalsozialismus, als der regimekritische Pankok als „entarteter Künstler“ angesehen wurde, mit Ausstellungsmöglichkeiten und Werkkäufen unterstützt habe. Außerdem weist er darauf hin, dass Hasenjäger in seiner 1936 begonnenen Amtszeit die ruinierten Stadtfinanzen saniert und die Lebensmittelversorgung während des Krieges vorbildlich geregelt habe. Sein Eintritt in die NSDAP sei 1937 nur unter dem Zwang der damaligen Verhältnisse zustande gekommen.
Mülheimer Löwenhof war seiner Zeit voraus
Wir schreiten mit dem Leiter des Stadtarchivs voran ins Jahr 1950 und finden im Magazin mit dem Programmheft des legendären Löwenhof-Kinos ein filmreifes Zeitdokument. „Das ist uns durch eine private Schenkung in die Hände gekommen“, berichtet Stefan Pätzold. Der 1946 eröffnete und von Max Uhle geführte Löwenhof stand bis zu seinem umstrittenen Abriss 1980 an der Ecke Bahnstraße/Eppinghofer Straße, auf halbem Weg zwischen Hauptbahnhof und Schloßstraße. Der Kinobetreiber, der seine Gäste 1950 auf Holzklappsitzen Platz nehmen lässt, preist den Löwenhof in seinem Programmheft vom November 1950 „als eines der modernsten Theater des Westens“ an, dessen „Technik der Zeit weit vorausgeeilt ist“. Er weist darauf hin, dass hier nicht nur Filme aus deutscher Produktion und aus der Weltproduktion, sondern auch Fox‘ Tönende Wochenschau zu sehen ist.
Zwei Jahre vor der Einführung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sind die Wochenschauen im Kino-Vorprogramm eine beliebte filmische Informationsquelle über das Weltgeschehen. „Film ab!“ heißt es im November 1950 für den Liebesfilm „Ein Herz schlägt für dich“ mit Rudolf Prack und Anneliese Rheinhold in den Hauptrollen, das amerikanische Liebesdrama „Schweigende Lippen“ mit Jane Wyman und Lew Ayres in den Hauptrollen. Darüber hinaus können sich die Kinozuschauer im Herbst 1950 auch auf „Pat und Patachon als Mädchenräuber“, auf den Kriminalfilm „Der Schatten des Herrn Molitor“ mit Karl Raddatz in der Hauptrolle und auf die Filmbiografie „Eroica“ freuen, in der der Wiener Burgschauspieler Ewald Walser Ludwig van Beethoven verkörpert.
Mülheim im Winnetou-Fieber: Die Karl May-Festspiele
Auch Karl Mays Helden Winnetou, Old Shatterhand und Co. kannten die Mülheimer von der Kinoleinwand. Doch das Plakat, das uns Jens Roepstorff zum Schluss unserer Zeitreise als „einen Schatz im Stadtarchiv“ präsentiert, erinnert an die Karl May-Festspiele, bei denen Winnetous und Old Shatterhands Erben vom 25. Juni bis zum 21. Juli 1971 durch die 37 Jahre zuvor eröffnete Freilichtbühne an der Dimbeck ritten.
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Die Hauptdarsteller ritten auch werbewirksam durch die Innenstadt und rauchten mit Oberbürgermeister Heinz Hager eine Friedenspfeife. Etliche Mülheimer Schüler besserten als Karl-May-Statisten im Sommer 1971 ihr Taschengeld auf. Doch obwohl insgesamt 40.000 Karl-May-Fans Winnetou, Old Shatterhand und das Geheimnis der Bonanza in der Freilichtbühne miterlebten, blieb der Wilde Westen an der Dimbeck aus Kostengründen ein einmaliges Erlebnis.