Mülheim. Alexander Wiegand verhalf anderen zur Flucht und kam selbst ins Gefängnis. Warum er nicht wissen will, wer ihn verriet und wofür er heute kämpft.
Alexander Wiegand hat Dinge erlebt, die die meisten Menschen nur aus Büchern kennen. Und während für die meisten von uns die Zeit der DDR und Sowjetunion im Rückspiegel der Geschichte immer kleiner wird, ist das alles für den Mülheimer noch sehr aktuell. Weil noch immer viele Fragen offen sind. Und weil Wiegand zwar heute als Zeitzeuge hofiert wird, aber vor Gericht immer noch um Anerkennung kämpft.
Aber der Reihe nach: In den Siebzigerjahren war Wiegand als Spediteur zwischen Ost und West einer der wenigen, der die Grenze zwischen BRD, DDR und UdSSR regelmäßig passierte. „Ich habe mich immer schon für Politik interessiert. Außerdem hat mir meine Patentante – eine Nonne – beigebracht, nicht nur an mich zu denken. Ich wollte Leuten helfen.“ Aber nicht irgendwelchen Leuten, sondern etwa 130 Menschen, die flüchten wollten. Alexander Wiegand baute eine doppelte Wand in seinen Laster und hatte bald auch ein paar Grenzposten auf seiner Seite, die gegen Barzahlung auch mal ein Auge zudrückten.
Der Mülheimer erkannte zu spät, dass er in der Falle saß
Wiegand fühlte sich seiner Sache sicher bis zu einem Tag im Jahr 1972, als er versuchte, eine sudetendeutsche Familie über die deutsch-tschechische Grenze zu schleusen. In den Frachtpapieren fehlte angeblich ein Stempel. „Ich dachte, dass die Sache leicht zu lösen ist, aber es war eine Falle“, erinnert er sich. Drei Tage verbrachte er in Handschellen, danach ging es für acht Monate nach Pilsen in U-Haft, anschließend in ein Lager für politisch Gefangene. Seine Strafe: 26 Jahre Haft wegen Menschenhandels.
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„Ich kam in Dunkelhaft, wurde gefoltert. Die Folgen spüre ich bis heute“, sagt der 81-Jährige. Als ihn ein deutscher Mitgefangener kurz vor der Entlassung fragte, wie er ihm nur helfen könne, bat ihn Wiegand um Geld. „Er schaffte das Unmögliche. Irgendwie schmuggelte er mir 5000 DM in präparierten Konservendosen ins Gefängnis.“ Mit dem Geld konnte Wiegand einen verzweifelten Plan umsetzen: Er bestach einen Neurologen und ließ sich ein Medikament spritzen, das Lähmungen erzeugte.
Außenminister Genscher setzte sich für den Mann aus Mülheim ein
Dadurch kam Wiegand in ein Militärkrankenhaus, in dem er einen guten Draht zu einem Wachmann entwickelte. „Am 24. Dezember 1975 kam er in meine Zelle, stellte eine Kerze auf, legte einen Apfel ab und sagte: Auch für dich wird die Sonne wieder scheinen.“ Es war jener Aufseher, der einen Brief Wiegands nach Prag in die bundesdeutsche Botschaft brachte. Ein Brief, der viereinhalb Jahre nach seiner Verhaftung zur Befreiung führen sollte. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher soll sich persönlich für Wiegands Freilassung engagiert haben. Er war es auch, in dessen Flieger der Mülheimer nach Frankfurt ausgeflogen wurde.
Wenn Wiegand über diese Jahre spricht, ist seine Sprache lebendig, seine Schilderung detailreich. Jeden Ort, jeden Namen erinnert er. Als liefe das alles noch wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. „Die posttraumatische Belastungsstörung spüre ich bis heute“, sagt er und damit kommen wir zu dem Grund, warum Alexander Wiegand eben nicht mit der Vergangenheit abschließen kann. Kürzlich erst wurde seine Klage auf Opferrente abgewiesen. Der Hintergrund: Wer als politischer Gefangener in DDR-Gefängnissen einsaß, bekommt eine solche Zusatzrente. Wiegand wird diese verweigert, da er in der damaligen Tschechoslowakei einsaß. Er dagegen sagt: „Ich wurde auch zu Verhören nach Ost-Berlin und Bautzen gebracht.“ Seine Anwältin hat Berufung eingelegt.
Wiegand half auch nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl und im Bosnien-Krieg
Das Urteil war für den Mülheimer, der sich später für Tschernobyl-Kinder einsetzte und Medikamente ins kriegsgeschüttelte Bosnien brachte, auch deshalb so bitter, weil er als Zeitzeuge durchaus gern gesehen ist. Immer wieder wird er zu Festakten eingeladen, zuletzt an diesem Freitag im NRW-Landtag beim Gedenken an den Arbeiteraufstand 1953 in der DDR. Und wie steht er zum Bundesverdienstkreuz das er 2019 verliehen bekam? „Ich habe mich gefreut“, sagt er. Die Nadel trage er stolz am Revers, die sei immer an seinem Sakko.
Für Alexander Wiegand bleibt die Vergangenheit lebendig. Nur vor einer Sache verschließt er die Augen ganz bewusst. Durch Einsicht in die Stasi-Akten weiß er, dass ihn an jenem verhängnisvollen Tag 1972 jemand verraten hat. „Der Name ist geschwärzt. Ich könnte Einsicht beantragen, ich habe sogar jemanden im Verdacht, aber ich tue es nicht.“ Manchmal braucht die Seele eben doch ihre Ruhe.
Wofür bekommt man eigentlich das Bundesverdienstkreuz und was hat man davon? Wir fragen bei Mülheimer Ordensträgern nach und stellen ihre Lebenswerke vor.