Mülheim. Zu lange gewartet, kein Antibiotikum bekommen: Manche Patienten rasten sofort aus. Der Druck wächst. Erfahrungsberichte aus Mülheimer Praxen.

Hochbetrieb in einer großen Mülheimer Hausarztpraxis. Ein Patient wartet schon länger. Er wurde vergessen. Und jetzt? „Der eine kommt nach vorne und fragt nett nach, der andere poltert sofort los: ,Was ist das hier für ein Saustall?!’“ Claudia Gräfenstein, Praxismanagerin in Mülheim, Frau mit über drei Jahrzehnten Berufserfahrung, hat beides schon erlebt.

An lebhaften Vormittagen wollen 100, vielleicht sogar 120 mehr oder weniger Kranke behandelt werden. Das war früher kaum anders. Doch Claudia Gräfenstein stellt zunehmend fest: „Der Ton hat sich verändert. Oft legen Leute schon wegen Kleinigkeiten aggressiv los.“ Weil sie an einem rummeligen Morgen im Wartezimmer vergessen wurden. Oder weil sie noch einmal weggeschickt werden, um sich eine FFP2-Maske zu besorgen, und das überhaupt nicht einsehen. „Das finde ich schlimm“, sagt die 53-Jährige. „Es gehört sich einfach nicht.“

„Unglaubliches Anspruchsdenken“ in Mülheimer Notdienstpraxis

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Auch Gabi Fischer arbeitet seit etlichen Jahren als Medizinische Fachangestellte (MFA) in Mülheim. Die 60-Jährige ist leitende Kraft in der kassenärztlichen Notdienstpraxis am St. Marien-Hospital. Dort laufen abends oder am Wochenende Menschen mit allen möglichen akuten Beschwerden ein. Die Wartezeiten seien gar nicht mal lang, sagt Gabi Fischer, in vielen Praxen, erst recht in der Zentralen Notaufnahme, sei es viel schlimmer. Dennoch stellt sie fest: „Das Anspruchsdenken hat sich enorm geändert. Die Leute verlangen in der Notfallpraxis das komplette Paket – mal eben ein CT, auf der Stelle eine Infusion oder sofort ein Antibiotikum, weil viele glauben, es sei ein Allheilmittel bei Husten, Schnupfen, Heiserkeit.“

Dr. Stephan van Lackum (re.) in der KV-Notdienstpraxis am Mülheimer St. Marien-Hospital (Archivbild). Nicht alle Patienten treten so ruhig und friedlich auf wie dieser Mann. Es gibt sogar einen Schutzraum für das Team.
Dr. Stephan van Lackum (re.) in der KV-Notdienstpraxis am Mülheimer St. Marien-Hospital (Archivbild). Nicht alle Patienten treten so ruhig und friedlich auf wie dieser Mann. Es gibt sogar einen Schutzraum für das Team. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Wenn sie ihren Willen nicht bekommen, würden Patienten teilweise laut und aggressiv, berichtet die erfahrene MFA. „Da knallt dann schon mal eine Tür. Diese Unzufriedenheit, wenn man nicht das aufgeschrieben bekommt, was man möchte, die ist wirklich unglaublich.“ Heftiger als früher. Ein anderes Beispiel: Patienten, die die Praxis betreten, werden gebeten, kurz ihre Hände zu desinfizieren. Nicht alle seien sofort dazu bereit, beobachtet Gabi Fischer: „Zu Beginn der Coronapandemie haben die Leute fast in Desinfektionsmittel gebadet. Seit die Pflicht aufgehoben ist, haben manche dafür kein Verständnis mehr.“

Erfahrene MFA: „Ich versuche zu besänftigen“

Claudia Gräfenstein äußert sich ähnlich, sie hat den Eindruck: „Während Corona war alles ein bisschen friedlicher. Die Leute waren ja dankbar, dass wir unsere Praxis immer auf hatten. Jetzt treten sie uns gegenüber wieder anders auf. Das Verständnis ist weg.“ Auch sie kennt das Reizthema Antibiotikum: Letztens habe eine Patientin regelrecht danach geschrien, „dabei sollten die Leute doch froh sein, dass die Ärzte nicht sofort ein Antibiotikum verordnen“. Probleme gebe es mit Männer wie Frauen, mit jüngeren wie älteren Personen.

Sie habe mittlerweile gelernt, damit umzugehen, sagt die 53-Jährige, doch jüngere Kolleginnen fühlten sich eher persönlich angegriffen. „Wenn ich merke, dass unruhige Stimmung aufkommt, versuche ich zu besänftigen und die Jüngeren rauszuziehen.“ Aber auch das möchte sie nicht unerwähnt lassen: „Im Großen und Ganzen haben wir ein nettes und tolles Patientenklientel. Viele kommen lächelnd rein, bringen Pralinen zu Ostern mit oder mal einen Kaffee, wenn wir richtig im Stress sind.“

Gewerkschafter: Fachärztemangel erhöht den „Druck auf dem Kessel“

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Der Druck, dem viele Angestellte täglich ausgesetzt sind, kommt auch bei der Gewerkschaft Verdi an. Insgesamt 96 Personen aus Mülheimer und Oberhausener Arztpraxen seien gewerkschaftlich organisiert, sagt Björn Jadzinski, zuständiger Verdi-Bezirkssekretär für den Gesundheitsbereich. Er höre oft aus den Praxen, dass Patientinnen und Patienten ungeduldiger werden. Und er kenne auch einen häufigen Grund: „Patienten warten oft wahnsinnig lange auf einen Facharzttermin. Und wen kriegt man in der Praxis ans Telefon? Die Kolleginnen an der Rezeption. Sie bekommen den kompletten Frust der Leute ab, wenn der nächste Termin erst in einigen Monaten frei ist.“

Der Fachärztemangel sei ein strukturelles Problem, so Jadzinski. „Bei Kardiologen oder Dermatologen ist besonders viel Druck auf dem Kessel. Aus Zahnarztpraxen beispielsweise nehme ich das viel weniger wahr.“ Die Coronapandemie wirke sich unterschiedlich auf das Stresslevel aus, so der Gewerkschafter. Einerseits sorge die aktuell noch bestehende Maskenpflicht häufig für Diskussionen. Andererseits müsse man nicht mehr für jedes Folgerezept persönlich in der Praxis erscheinen, und auch Krankmeldungen werden inzwischen elektronisch übermittelt. Noch hakt es bei der Technik häufig, „wenn es aber läuft und die Kolleginnen weniger Papierkram erledigen müssen, kann es den Arbeitsalltag deutlich entlasten“, so Jadzinski.

Hausarzt erlebt ständige Diskussionen: „Jeder will der Erste sein“

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Nach Einschätzung von Dr. Stephan von Lackum, Hausarzt in Speldorf und Vorsitzender der KV-Kreisstelle Mülheim, hat die Coronapandemie eher für angespanntere Stimmung und oft schärferen Ton in den Praxen gesorgt. Er berichtet von „fast täglichen Diskussionen, zum Teil in unangemessener Lautstärke“. Streitpunkt seien die Maskenpflicht, aber auch langes Warten auf Termine oder ausgedehnte Wartezeiten während der Sprechstunde, weil die anhaltende Infektionswelle für starken Andrang sorgt. „Jeder will immer der Erste sein“, beobachtet von Lackum, „doch aufgrund knapper Ressourcen ist das nicht möglich.“

Als Arbeitgeber stelle er sich vor seine Mitarbeiterinnen, „denn gute Fachkräfte sind knapp, und wenn sie kündigen, dann können wir die Praxis zumachen“. Er nehme Kritik ernst, doch wenn sie beleidigend oder laut werden, müssten die Patienten sofort seine Praxis verlassen.

KV: Gewalt ist ein wachsendes Problem

Auch bei der KV Nordrhein, die unter anderem für Mülheim zuständig ist, heißt es: „In der Tat ist das Thema Gewalt ein seit langem tendenziell wachsendes Problem in der medizinischen Versorgung – sowohl in Praxen als auch in Kliniken.“ Dabei gehe es nicht nur um verbale Ausfälle.

Auch im ärztlichen Bereitschaftsdienst sei der Ton „spürbar rauer geworden“, so ein KV-Sprecher. Man versuche, die Mitglieder für das Thema zu sensibilisieren und mögliche Lösungswege aufzuzeigen.

Mülheimer Notdienstpraxis hat einen Schutzraum

In der Mülheimer Notdienstpraxis gibt es einen Schutzraum, dessen Tür von außen nur mit einem Schlüssel geöffnet werden kann. „Notfalls könnten wir uns dort verbarrikadieren und die Polizei rufen“, sagt Gabi Fischer. Persönlich erlebt habe sie das noch nicht, passiert sei es vor Jahren einmal, als ein Patient – offenbar psychisch krank – im Eingangsbereich herumschrie und „alles vom Tisch fegte“. Da habe sich der diensthabende Arzt mit einer MFA tatsächlich in den Schutzraum zurückziehen müssen.

Ein Einzelfall, dennoch meint die erfahrene Fachangestellte: „Der Respekt vor ärztlichen Berufen ist verloren gegangen. Es müsste eine Stelle geben, bei der man sich über Patienten beschweren kann. Die gibt es aber leider nicht.

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