Mülheim. Die Altersstruktur der in Mülheim niedergelassenen Hausärzte verheißt nichts Gutes. Schon jetzt fehlt es an Ärzten. Was sind die Gründe dafür?

Zuerst die gute Nachricht: In Mülheim gibt es nach gültiger Berechnungsgrundlage mehr als genug Hausärzte, in Zahlen ausgedrückt herrscht eine Überversorgung von 102,8 Prozent. Davon kann manche ländliche Region in Deutschland nur träumen. Jetzt die schlechte Nachricht: Die Berechnungsgrundlage im Ruhrgebiet ist eine andere als im Rest von Deutschland. Bis 2028 werden die Rechenweisen schrittweise angeglichen. Mittlerweile hat man wohl eingesehen, dass auch im Ballungsgebiet der Metropole Ruhr zu viele Patienten pro Hausarzt zu Problemen führen.

Schon jetzt wären in Mülheim nach Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) ganze 7,5 Hausarztstellen zu besetzen. Und dafür wird es höchste Zeit, denn rund 42 Prozent der aktuell praktizierenden Hausärzte in Mülheim sind 60 oder älter. Rund 18 Prozent davon haben sogar bereits das 64. Lebensjahr überschritten. Dem gegenüber stehen gerade einmal 5,5 Prozent im U40-Bereich. Die Versorgungslage könnte sich mit der Zeit also noch deutlich verschlechtern.

Wie es idealerweise sein sollte, zeigt ein Blick auf die Zahl der niedergelassenen Kinderärzte: Über 60 Prozent sind jünger als 50, nur 15,4 Prozent 60 oder älter. Und obwohl hier die spezielle Berechnungsart nicht greift, kommt es zu einer Überversorgung von 112,8 Prozent. Weil 11 Kinderärzte in Vollzeit für Mülheim reichen, beträgt die Zahl der freien Sitze null.

Manche Mülheimer finden kaum noch einen Hausarzt, der sie aufnehmen will

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Einige Praxen nehmen deswegen keine Neupatienten mehr auf. „Manche gehen mit einem Bündel Akten unter dem Arm von Praxis zu Praxis auf der Suche nach einem Hausarzt“, sagt Dr. Stephan von Lackum, seit 2004 selbst niedergelassener Hausarzt in Speldorf und Geschäftsführer der KVNO-Kreisstelle Mülheim. Bei Neupatientensperren haben gerade ältere Menschen, die nicht gut zu Fuß sind, das Nachsehen, denn die können schlecht auf Praxen in Nachbarstädten ausweichen. Momentan versorgt ein Hausarzt in Mülheim bereits durchschnittlich 1800 Patienten.

Wie ist es dazu gekommen? „Die Leute werden immer älter und immer kränker“, sagt von Lackum kurz und bestimmt. Was kein Widerspruch ist, denn je älter die Menschen werden, umso häufiger werden auch typische Alterserkrankungen. Und unter anderem die wandern wiederum statistisch in die Berechnung der Versorgungslage ein, als sogenannte Morbiditätsrate.

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Alterung der Gesellschaft heißt aber auch Alterung der Ärzteschaft. Die Frage ist nur: Warum kommen so wenig Hausärzte nach? Der Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW) meldet für das Semester 2021/2022 immerhin einen Zuwachs an Medizinstudierenden von 23 Prozent im Zehnjahresvergleich. Ist der Beruf denn so unattraktiv geworden – oder liegt es am Standort Mülheim? Letzteres scheint zumindest regional nicht ausschlaggebend, denn die Versorgungslage ist im Umkreis ähnlich prekär.

Dr. Stephan von Lackum verweist auf mehrere Faktoren: Zum einen gäbe es durchaus lukrativere Karriereentscheidungen. Hautärzte oder Radiologen zum Beispiel hätten ein besseres Auskommen als Hausärzte. Das spiegelt sich auch in der Versorgungslage wieder: Mit einem Versorgungsgrad von 161,2 Prozent und null freien Sitzen ist Mülheim mit seinen acht Dermatologen so gut versorgt, wie sonst in keinem anderen Fachgebiet. Und außerdem hätten sich die Zeiten geändert: Manch ein Hausarzt hätte sich früher noch „die Finca auf Mallorca leisten können“. Mittlerweile reiche es ,nur’ noch für ein Reihenhaus. „Da sagen sich manche Studierende: Dafür habe ich nicht studiert!“

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Aber es geht nicht nur ums Geld. Zwei Drittel der Kandidatinnen und Kandidaten bei den Facharztprüfungen sind weiblich. Weil Frauen aber weiterhin das Gros der Arbeit rund um Kind und Familie übernähmen, erschiene den jungen Frauen nach der langen Ausbildung eine Praxisübernahme wenig ersprießlich.

„Die suchen sich dann fürs Erste lieber eine Anstellung an einem MVZ.“ Dabei könnten, so von Lackum, die Medizinischen Versorgungszentren längerfristig durchaus auch Teil der Lösung sein. Denn wenn Mediziner sich allgemein immer weniger an eine Praxis binden und finanziell keine Risiken mehr eingehen wollen, so offerieren MVZ zumindest die Möglichkeit, trotzdem in der Allgemeinmedizin tätig zu werden: neue Arbeitsmodelle für eine neue Generation von Ärzten.

Dr. Stephan von Lackum hat nach dem Studium zuerst als Assistenzarzt gearbeitet. Seit 2004 ist er Hausarzt in Mülheim-Speldorf.
Dr. Stephan von Lackum hat nach dem Studium zuerst als Assistenzarzt gearbeitet. Seit 2004 ist er Hausarzt in Mülheim-Speldorf. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

„Man bekommt viel mehr Anerkennung.“ – Was den Beruf für von Lackum auszeichnet

Im Bereich Allgemeinmedizin bräuchte es jetzt dringend mehr Absolventen. 186 waren es zuletzt in Nordrhein. Wünschenswert seien noch einmal 70 mehr. Von Lackum, der Mitglied der fachärztlichen Prüfungskommission ist und in seiner Praxis regelmäßig angehende Fachärzte ausbildet, gibt sich Mühe, beim Nachwuchs Werbung für sein Metier zu machen. Er selbst hat 2004 nach sieben Jahren als Assistenzarzt an verschiedenen Kliniken umgesattelt und ist Hausarzt geworden. Als Quereinsteiger kennt er beide Seiten: die Vor- und Nachteile von Anstellungsverhältnis und Selbstständigkeit. Seine Entscheidung habe er bis heute nicht bereut.

„Als Hausarzt ist man selbstbestimmt. Anders als in der Klinik muss man keinen Anweisungen von oben folgen. Und man bekommt viel mehr Anerkennung. Das sage ich aus vollstem Herzen! Als Hausarzt sehe ich die Patienten über viele Jahre, zum Teil auch die Kinder und mittlerweile sogar die dritte Generation.“ So entstünden enge, auch emotionale Bindungen. Das müsse man Medizinstudierenden möglichst früh zeigen, zum Beispiel im Rahmen von Pflichtpraktika, „damit die sehen, wie schön Hausarztmedizin sein kann“. Bei einer Ausbildungszeit von zehn bis 15 Jahren vom Studienbeginn bis zur Niederlassungsfähigkeit sollte damit besser früher als später begonnen werden.

Keiner will in den Norden? – Mülheims Nord-/Südgefälle bei der Hausarztversorgung

Von Lackum hält aber mit den Schattenseiten seines Berufs ebenfalls nicht hinterm Berg: Der Zustrom der Patienten sei enorm, die Belastung nicht zu unterschätzen und Hausbesuche gehörten zum Alltag. So könnte sich die Entwicklung immer weiter verschlimmern. Denn je unattraktiver der Beruf durch immer mehr zu versorgende Patienten wird, umso weniger Absolventen könnten sich in Zukunft dafür entscheiden – und so die Lage weiter verschlimmern: ein Teufelskreis.

Deutlich wird das auch mit Blick auf die Versorgung in den einzelnen Stadtteilen. Es herrsche ein ruhrgebietstypisches Nord-/Südgefälle, so von Lackum. Dümpten und Heißen seien derzeit etwas unterversorgt, je weiter man dagegen in den bürgerlichen Süden der Stadt vordringe, umso stärker wandle sich das Bild. Und in Styrum? Dort sei die Versorgung dank des sehr großen MVZ Hausärzte Ruhr besser, als man erwarten könnte.

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Auf die etwas ketzerische Frage, ob man auf Hausärzte, die Patienten doch oft nur an Spezialisten überweisen könnten, heutzutage nicht stellenweise auch verzichten könne, antwortet von Lackum mit einem kategorischen Nein: „Der Hausarzt muss frühzeitig gefährliche Verläufe erkennen.“ Die momentan immer weniger werdenenden Hausärzte tragen damit eine hohe Verantwortung.