Mülheim. Martina Ern hat 15 Jahre lang als Restauratorin den Wissensschatz der Stadt Mülheim gehütet. Wie sie historischen Dokumenten ewiges Leben schenkt.

„Das ist der Grund, warum man seine Unterlagen nicht auf dem Dachboden lagern sollte“, sagt Martina Ern und deutet auf einige Schichten Blätterteig vor sich. Zumindest könnte man das zerbröselte Papier dafür halten, wenn es nicht beschriftet und mit Fotos beklebt wäre. Bei dem Unglücksfall handelt es sich um eine 80 Jahre alte Firmenchronik, die einige Jahrzehnte unter dem Dach gelagert wurde und dort offensichtlich zu viel Hitze abbekommen hat. Martina Ern bekäme Papier wie dieses wieder hin – mit viel Zeit, Muße und 45 Jahren Berufserfahrung als Restauratorin. „Aber das dürfte wohl schon das erste Projekt für meinen Nachfolger werden.“ Denn Martina Ern hatte am Freitag ihren letzten Arbeitstag.

15 Jahre lang hat sie die Restaurationswerkstatt des Mülheimer Stadtarchivs geleitet. „Und wir lassen sie wirklich nicht gern gehen“, sagt Archivleiter Stefan Pätzold. Das hat zum Einen mit der herzlichen Art der 64-Jährigen zu tun. Aber auch mit ihrer Arbeitseinstellung. „Ich bin keine, die ewig am Schreibtisch sitzen will. Ich bin eine Wühlerin. Ich möchte Berge versetzen und etwas schaffen“, sagt sie selbst. „Sie ist eine Meisterin der pragmatischen Problemlösung“, sagt ihr Chef.

1000 historische Mülheimer Urkunden mussten umgebettet werden

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Von Bettina Kutzner

Etwas schaffen – das hat Martina Ern reichlich und immer wieder. Zuletzt hat sie die 1097 Urkunden – die älteste aus dem Jahr 1221 – umgebettet. Statt in Plastikfolien ruhen sie nun in Pappkartons aus säurefreiem Papier, jedes einzelne Siegel eingehüllt in ein Papier, das aussieht wie eine Mischung aus Wattepad und Filterpapier. „Ich liebe Urkunden. Pergament und Wachssiegel sind mein Ding“, sagt Martina Ern und deutet auf ein restauriertes Siegel, dessen fehlende Hälfte bewusst mit weißem Wachs ersetzt wurde und sich deutlich von dem braunen Originalwachs abhebt. „Man soll unsere Arbeit sehen.“ Das ist eine Maxime in ihrem Beruf. Genauso wie die Vorgabe, dass alle Änderungen reversibel sein müssen, für den Fall, dass in der Zukunft noch bessere Techniken zur Verfügung stehen sollten.

In mühevoller Detailarbeit widmete sich die Restauratorin stets ihren Schätzen.
In mühevoller Detailarbeit widmete sich die Restauratorin stets ihren Schätzen. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Denn Martina Ern arbeitet für die Ewigkeit. Oder wie es Archivleiter Stefan Pätzold beschreibt: „Wir bewahren Dinge dauerhaft auf und das bedeutet bis zum Ende des blauen Planeten.“ Das bedeute aber nicht, dass die Archivschätze abgelegt und weggeschlossen würden. Vielmehr ginge es darum, sie aktiv zu pflegen.

Einsatz für eine mysteriöse Schatulle auf Schloß Broich

Ursprünglich hat Martina Ern Buchbinderin gelernt. In die Restauration kam sie durch Weiterbildung, arbeitete dann 33 Jahre im Landesarchiv Düsseldorf. In Mülheim wurde sie nicht nur Herrin über 800 laufende Meter archivierte Akten, sondern außerdem über besagte Urkunden, Poster, Postkarten, Fotos und Zeitungsausgaben. Es kamen noch einmal ganz neue Aufgaben auf sie zu, als 2009 auch die Bestände vom Schloß Broich und dem Tersteegenhaus in die Verantwortung des Stadtarchivs übergingen. „Plötzlich hatte ich auch mit Metallobjekten, Holz und Textilien zu tun“, erinnert sich die Düsseldorferin.

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Besonders gern denkt sie an einen „Feuerwehr-Einsatz“ auf Schloß Broich, als dort 2014 bei Bauarbeiten eine eingemauerte Schatulle aus Metall gefunden wurde. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Art Zeitkapsel aus den Zwanzigerjahren, gefüllt mit Münzen und Zeitungsartikeln.

Mülheims Restauratorin packte nach Archiv-Einsturz in Köln mit an

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Überhaupt ist die Restauratorin eine Frau, auf die man sich auch im Ernstfall verlassen kann. Als 2009 in Köln das Stadtarchiv einstürzte und der ganze Wissensschatz der Stadt in Gefahr war, half sie zwei Wochen lang ehrenamtlich „direkt am Loch“ mit, wie sie sagt. Ihr Fazit damals: „Gut verpackt ist halb gerettet. Stabile Pappkartons sind aufeinander gestapelt wie eine Backsteinwand.“

Und dann wird Martina Ern auf einmal ganz still. Es ist der Moment, als die Frage aufkommt, ob man einen Beruf wie diesen wohl jemals ganz hinter sich lassen kann. Martina Ern, diese agile Frau mit den lachenden Augen, die eben noch so lebendig über ihre Arbeit als Restauratorin gesprochen hat, öffnet den Mund – und schließt ihn wieder. Die Augen glänzend. Das ist Antwort genug. Wer ihr Nachfolger wird, ist noch offen. Stefan Pätzold hofft, dass es schnellstmöglich zur Ausschreibung kommt, denn fest steht: „Diese Arbeit ist unersetzlich. Ohne Werkstatt ist der Archivbestand in Gefahr.“

Bleibt die Frage: Wie soll man denn nun seine privaten Papiere lagern, um sie für die eigene kleine Ewigkeit zu konservieren? „Am besten in einer kühlen Abstellkammer ohne Sonneneinstrahlung. Nicht in der Besenkammer, denn da steht der feuchte Putzeimer.“