Mülheim. .
Die Bücher, die Martina Ern in ihrer Werkstatt behandelt, sind nicht nur zerfleddert oder haben Eselsohren. Auch der eine oder andere Wasser- oder Fettfleck wäre noch das geringste Problem.
Die Bücher, die die Restauratorin des Stadtarchivs auf den Tisch bekommt, sind erstens selten und zweitens alt. Und nicht nur die Jahrhunderte haben, bildlich gesprochen, an ihnen genagt, sondern manchmal auch sehr reale Mäuse. Weil so ziemlich alles, was das Archiv in seinem rund 800 Bände umfassenden historischen Bestand hat, rare Einzelstücke sind, wird sehr viel Engagement darauf verwendet, sie gut zu erhalten. Was die Mäuse weggefressen haben aus dieser theologischen Abhandlung aus dem 16. Jahrhundert, kann auch Frau Ern mit ihren 34 Jahren Berufserfahrung nicht wieder holen.
Jede Seite einzeln
Aber sie kann den gealterten Ledereinband restaurieren, die Seiten – jede einzeln – sorgfältig im Wasserbad reinigen, und am Ende jene Seiten, die ganz oder teilweise fehlen, mit Japanpapier aus feiner Zellulose ergänzen. So, dass man wieder darin blättern kann.
Wie lange Martina Ern, die über das Buchbinderhandwerk und Zusatzausbildungen zu ihrer Profession kam, an einem einzelnen Buch arbeitet, kann sie kaum in Stunden fassen. Auch, weil sie meist mehrere Projekte gleichzeitig betreut. Zum Beispiel diese schönen alten Kartenblätter über Italien, die noch aus der Werkstatt Gerhard Mercators stammen und 1589 gedruckt und von Hand nachkoloriert wurden. Zwar lagen diese Karten nie in einem Handschuhfach, aber geknickt wurden sie trotzdem – und an dieser Stelle reißen Landkarten eben im Laufe der Zeit, alte wie neue.
Martina Ern, die die meiste Zeit ihres Berufslebens im Landesarchiv Düsseldorf verbracht hat und seit 2008 im Mülheimer Stadtarchiv arbeitet, ist Expertin für alle Materialien, auf die man etwas schreiben, malen, drucken kann: Pergament, Leder und eben Papier, in vielfältigen Zusammensetzungen. Auch bei der Grafiksammlung im Mülheimer Kunstmuseum hat Ern schon mal fachlich Hand angelegt.
Den Zerfall aufhalten
Papier mag zwar geduldig sein, für die Ewigkeit ist es aber nicht gemacht: Insektenfraß, Tintenfraß, Stockflecken, Schimmel setzen den Seiten zu. Martina Erns Fingerspitzengefühl und ihre Erfahrung zeigen ihr, womit sie es zu tun hat und wie das Material behandelt werden muss, damit der Zerfall aufgehalten werden kann. Denn es geht ja gar nicht darum, einen Schaden zu verdecken, möglicherweise etwas zu verfälschen. „Alle Maßnahmen, die wir Restauratoren ergreifen, kann man auch wieder rückgängig machen“, betont Frau Ern. Zum Beispiel dann, wenn sich neuere, bessere Restaurationstechniken im Laufe der Zeit durchsetzen. „Wir heben die Sachen“, so Mülheims Archivleiter Dr. Kai Rawe, „ja nicht nur für zehn Jahre auf.“
Historische Karten, juristische Abhandlungen vergangener Jahrhunderte, die ersten Katasterpläne der Stadt oder Urkunden, die einen Besitzwechsel anzeigen – all dies ist für den Normalbürger kaum von Interesse, für die Wissenschaft allerdings schon. Selbst von amtlichen Dokumenten gab es in alter Zeit oft nur ein einziges Exemplar, nämlich das Original. Und für einen Forscher, in dessen Fachgebiet das Papier vielleicht in einigen Jahrzehnten einmal fällt, ist es ein Glück, wenn eine Expertin wie Martina Ern das Dokument fit für die nächsten Jahrhunderte gemacht hat.
Heiratsvertrag von 1505
Zum Beispiel den Heiratsvertrag zwischen Wirich von Daun und Irmgart zu Sayn vom 15. November 1505: Das großformatige Pergament wird in einer Schachtel aus säurefreiem Karton verwahrt, und auch die vielen Siegel wurden von Martina Ern teilrestauriert. Warum das Dokument so wichtig für Mülheims Stadtgeschichte ist, erklärt Archivleiter Rawe: Weil die Braut unter anderem das Schloß Broich mit in ihre Ehe brachte, bedeutete das vor über 500 Jahren einen Dynastiewechsel an der Ruhr – die Herrschaft von Broich fiel an die Grafen von Daun.
Sollte das in, sagen wir mal, weiteren 500 Jahren noch einmal jemand schwarz auf weiß nachlesen wollen: Martina Ern hat alles dafür getan.