Mülheim. Das Bürgergeld kommt, die Vertrauenszeit fällt. Was sagen Mitarbeiter im Mülheimer Jobcenter dazu? Wie oft Leistungen wirklich gestrichen werden.

Hartz IV ist Geschichte. 2023 wird das bei Beziehern, Sozialdemokraten und deren einstmaligen Wählern eher unbeliebte Arbeitslosengeld II, wie es richtig heißt, ersetzt durch das sogenannte Bürgergeld. Damit werden in Zukunft bei der wichtigsten deutschen Sozialleistung keine Assoziationen mehr an einen wegen Veruntreuung von Firmengeldern in 44 Fällen verurteilten einstigen VW-Manager aufkommen. Aber natürlich ändert sich auch in der Sache einiges.

Über das Für und Wider von Sanktionen entbrannte ein leidenschaftlicher Streit

Streit gab es im Vorhinein über die Eckpunkte. Vor allem die Union hatte gegen die ursprünglichen Pläne der Ampelregierung lautstark protestiert. Besonders leidenschaftlich wurde über die sogenannte Vertrauenszeit gestritten: Der Entwurf der Regierungskoalition sah vor, Bezieher von Bürgergeld in den ersten sechs Monaten grundsätzlich nicht zu sanktionieren. Es sei nicht gerecht, „dass Menschen auf Kosten derer, die fleißig arbeiten gehen, ziemlich lange nicht mitwirken müssen“, äußerte sich beispielsweise NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst dazu.

Die Union blockierte das Gesetz im Bundesrat. Im angerufenen Vermittlungsausschuss wurde die Vertrauenszeit ersatzlos gestrichen. In abgespeckter Form tritt das Bürgergeld nun ab 2023 in zwei Schritten in Kraft (1. Januar / 1. Juli). Soviel zur politischen Gemengelage.

Was die Mitarbeiterinnen am Mülheimer Jobcenter zur Vertrauenszeit sagen

Doch welche Rolle spielt der Einsatz von Sanktionen (sprich: Kürzungen von Leistungen) eigentlich in der Praxis? Müssen Arbeitsvermittler Leistungsbezieher oft sanktionieren? Sind sie froh, dass die Vertrauenszeit gestrichen wurde? Diese und weitere Fragen haben wir der Abteilungsleiterin für Markt und Integration am Jobcenter Mülheim, Heike Gnilka, der Casemanagerinnen Zeynep Döhler (zuständig für Dümpten) und Kathrin Wiegel, Casemangerin im U25-Haus (zuständig für Heißen), gestellt.

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Doch zunächst ein paar Worte zu deren Arbeitsalltag: Der Tag einer Casemanagerin beginnt amtstypisch um acht. Vier bis fünf Vermittlungsgespräche am Tag seien normal, so die Mitarbeiterinnen im Jobcenter. Der Aufwand für Vor- und Nachbearbeitung sei nicht zu unterschätzen. Während Zeynep Döhler (38) ihre Kunden im Büro begrüßt, macht sich Kathrin Wiegel (43) vom U-25-Haus auch schon einmal auf zu den aktuellen Wirkungsstätten ihrer noch jungen und am Berufsanfang stehenden Klientel. „Manchmal ist es auch einfacher, die Jugendlichen bei einem Spaziergang zu erreichen“, erklärt Wiegel. Mit solchen „Walk-and-Talk-Terminen“ habe sie gute Erfahrungen gemacht, schließlich sei gerade am Anfang der Aufbau von Vertrauen das Wichtigste.

Kathrin Wiegel ist am U25-Haus zuständig für den Mülheimer Stadtteil Heißen. Die Organisation nach Stadtteilen statt Buchstaben ist ein Mülheimer Spezifikum. Im Einsatzgebiet gut vernetzt zu sein, könne enorm hilfreich bei der Arbeit sein, sagt die Casemanagerin, die früher in der Jugendhilfe gearbeitet hat. Ihre jüngsten Kunden sind 15 Jahre alt.
Kathrin Wiegel ist am U25-Haus zuständig für den Mülheimer Stadtteil Heißen. Die Organisation nach Stadtteilen statt Buchstaben ist ein Mülheimer Spezifikum. Im Einsatzgebiet gut vernetzt zu sein, könne enorm hilfreich bei der Arbeit sein, sagt die Casemanagerin, die früher in der Jugendhilfe gearbeitet hat. Ihre jüngsten Kunden sind 15 Jahre alt. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

An 90 Fällen arbeitet die Casemanagerin in Teilzeit gerade parallel. Ihre Kollegin aus dem Ü25-Bereich gar an 210. Thema Vertrauen: Kann man sich da überhaupt die Namen, geschweige denn die Jobprofile jeder und jedes Einzelnen merken? Für Zeynep Döhler kein Problem: „Nach fünf Jahren im Sachgebiet kenne ich meinen Kundenstamm.“

Praxischeck: Wie oft Leistungsbezieher in Mülheim sanktioniert werden

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Und wann haben Sie das letze Mal einen Kunden sanktioniert? Die Antwort darauf fällt weniger entschieden aus. Beide Casemangerinnen müssen überlegen – es ist schon länger her. Das hat zwei Gründe: Zum einen hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zusammen mit der Coronapandemie bei den Jobcentern in den vergangenen Jahren ohnehin zu einer weitestgehend sanktionsfreien Praxis geführt. Das aktuelle Sanktionsmoratorium läuft noch bis Mitte des kommenden Jahres. Zum anderen treten Sanktionen auch in normalen Zeiten nur selten in Kraft.

Heike Gnilka erklärt das so: „Erscheint jemand nicht zum Termin, versuchen wir zuerst Kontakt aufzunehmen. Dann erfolgt die Einladung zur Anhörung. Wenn dann zum Beispiel familiäre Probleme oder Krankheitsgründe angeführt werden, akzeptieren wir das auch im Nachhinein. Nur wenn jemand sagt: Ich musste mit dem Hund Gassi gehen – dann tun wir uns natürlich schwer, das als Grund zu akzeptieren.“ Einen Automatismus gibt es also nicht. „Jeder Fall muss für sich betrachtet werden“, ergänzt Wiegel. Dieser Anspruch verbirgt sich wohl auch hinter der etwas sperrigen offiziellen Berufsbezeichnung des Casemanagers, der es wie der Kriminalkommissar oder der Psychotherapeut mit individuellen Fällen zu tun hat.

Das Mülheimer Jobcenter an der Eppinghofer Straße. Viele Casemanager teilen sich hier notgedrungen ein Büro mit einem Kollegen, was bei der Arbeit nicht immer praktisch ist – auch deswegen will sich das Jobcenter 2023 räumlich vergrößern.
Das Mülheimer Jobcenter an der Eppinghofer Straße. Viele Casemanager teilen sich hier notgedrungen ein Büro mit einem Kollegen, was bei der Arbeit nicht immer praktisch ist – auch deswegen will sich das Jobcenter 2023 räumlich vergrößern. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Die erste Lektion aus der Praxis lautet also: Es wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: In den normalen Zeiten vor Corona lag die Sanktionsquote in Mülheim bei 1,7 Prozent (Dezember 2019), in NRW waren es 2,3 Prozent.

Jobcenter Mülheim: Sanktionen helfen, „den inneren Schweinehund zu überwinden“

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Wenn auch sehr selten angewandt, so seien die Sanktionen aber dennoch wertvoll, so die Casemangerinnen. Deswegen würden sie auch ungern ganz auf dieses Instrument verzichten. „Nicht jeder hat eine ausreichend hohe intrinsische Motivation. Das gilt vor allem, wenn man lange nichts machen musste und nicht gefordert wurde“, so Döhler. Manchmal gehe es nur darum, im Vorfeld einer Schulung oder Weiterbildung „den inneren Schweinehund zu überwinden“, ergänzt Gnilka. Viele seien dann im Nachhinein sogar dankbar und spiegelten den Mitarbeiterinnen im Jobcenter wider: ,So schlimm ist es gar nicht gewesen.’

Sanktionen in der Praxis, so wird im Gespräch deutlich, dienen also weniger der Bestrafung von vermeintlichen Sozialschmarotzern, sondern weit mehr als ein Instrument neben anderen, um Arbeitssuchende zu aktivieren, um „Selbstwirksamkeit erfahrbar zu machen“, wie es Wiegelt formuliert. Ziel sei schon jetzt, Kunden in möglichst langfristige Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. In Mülheim gelingt das in ungefähr drei Viertel der Fälle. Die Nachhaltigkeitsquote lag im März 2021 bei 73,4 Prozent. Das heißt: Gut drei Viertel der vermittelten Arbeitskräfte sind zwölf Monate nach der Arbeitsmarktintegration sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Vertrauenszeit wird Kunden am Mülheimer Jobcenter auch vor der Reform gewährt

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Mit oder ohne Sanktionen, eine Art Vertrauenszeit gelte schon jetzt: „Das Ziel ist ja nicht, Leistungen zu kürzen. Gerade junge Menschen kommen oft mit einem ganzen Rucksack von Problemen zu mir. Das sehe ich denen im ersten Gespräch aber nicht an. Wenn etwas nicht funktioniert, versuche ich herauszufinden, wo das Problem liegt“, erklärt Wiegelt vom U25-Haus, einer niederschwelligen Einrichtung ohne Amtscharakter, einem Angebot übrigens, das nicht jede vergleichbar große Stadt bietet.

Zentraler könnte es nicht gelegen sein: Im Mülheimer U25-Haus am Synagogenplatz will man jungen Menschen beim Berufseinstieg helfen: Von der Berufsorientierung bis zur Ausbildungsplatzsuche. Die Türen stehen allen Interessierten auch ohne Termin offen.
Zentraler könnte es nicht gelegen sein: Im Mülheimer U25-Haus am Synagogenplatz will man jungen Menschen beim Berufseinstieg helfen: Von der Berufsorientierung bis zur Ausbildungsplatzsuche. Die Türen stehen allen Interessierten auch ohne Termin offen. © FUNKE Foto Service | Hans Blossey

Selbstwirksamkeit, Vertrauen, individuelle Behandlung, Kooperation auf Augenhöhe: Aus Sicht der Praktikerinnen geht es bei Sanktionen nicht um Gerechtigkeit oder gar Sparzwänge, eher um einen letzten Trumpf, den man möglichst nicht ausspielt.

Jobcenter Mülheim vergrößert sich 2023

Ob das neue Bürgergeld ein Erfolg wird, darauf will sich Heike Gnilka nicht festlegen. Zu viele Details seien noch ungeklärt. Ein erhöhter Arbeitsaufwand ist wahrscheinlich, was bei einer ohnehin angespannten Personallage zur Herausforderung werden könnte. Immerhin wird sich das Jobcenter Mülheim im Februar 2023 räumlich vergrößern. Gnilka hofft, dass die angemieteten Räume an der Eppinghofer Straße bis Februar pünktlich umgebaut sind.