Mülheim. Armutsforscher Christoph Butterwegge legte zum Besuch beim Mülheimer SPD-Ortsverein politische Versäumnisse offen. So reagierten die Genossen.
Wie groß ist die Armut, insbesondere die Kinderarmut in Mülheim? Lauscht man dem Politik- und Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge, könnte das bereits die irreführende Frage sein: „Armut ist ein Teil der sozioökonomischen Ungleichheit“, macht Butterwegge gleich zu Beginn seines Vortrags im Alten Schilderhaus das eigentliche Fass auf. Denn über Reichtum wird selten geredet. Der „Armutsforscher wider Willen“ aber ließ bei der Arbeitsgemeinschaft 60plus der SPD am Montagabend kaum Zweifel an den sozialen Versäumnissen der Politik.
Und dazu zählen aus Sicht des einst von den Sozialdemokraten geschassten Wissenschaftlers schon die geläufigen wie irreführenden Begrifflichkeiten „relative Armut“ und „Reichtum“. Wer als Single unterhalb von 60 Prozent des Durchschnittseinkommens von brutto rund 3975 Euro (2020) liegt, gilt als relativ arm und sogar armutsgefährdet.
Einkommen allein reicht nicht zur Bewertung von Armut
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2021 lag dieser Schwellenwert für Armut bei 1251 Euro netto für Singles, 2627 Euro für zwei Erwachsene mit zwei Kindern. Für Butterwegge reicht das Kriterium allein nicht aus, denn auch das direkte Lebensumfeld – ob man in Mülheim oder München lebt – und die gesellschaftliche Beteiligung seien Faktoren: „Nicht mehr in den Zirkus oder ins Theater gehen zu können, sich nicht mehr mit Freunden treffen zu können – das sind bereits Zeichen relativer Armut.“
Kinder sind besonders davon getroffen – in Mülheim nunmehr fast jedes zweite, doch „mit ,Kinderarmut’ lässt sich die Gesellschaft für die Ursachen von Armut nicht sensibilisieren, weil sie als unverschuldet verarmt gelten“, glaubt Butterwegge. Wer hingegen in Deutschland arm ist, gilt als „Drückeberger“ und „Schmarotzer“. Beides ist aus Sicht des Wissenschaftlers falsch, denn längst spricht man von Erwerbs- und Altersarmut.
Die Kehrseite der Armut: Hyperreichtum
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Als „reich“ gilt hingegen schon der, der 200 Prozent über dem mittleren Einkommen liegt – „reich wäre damit jeder Studienrat oder wer ein Vermögen von mehr als 500.000 Euro hätte“. Für Butterwegge ist das jedoch eine „Verschleierung von Reichtum“. Denn in Deutschland besitzen, so der Wissenschaftler, nur rund ein Prozent der Bevölkerung mehr als 20,4 Prozent des Nettogesamtvermögens, „45 der reichsten Familien in Deutschland haben mehr Vermögen als 40 Millionen Menschen“.
Pandemie und Krieg haben diese Schere weiter auseinandergehen lassen. Mit Rettungsschutzschirmen und 600 Milliarden Euro half man Tui, Kaufhof und Lufthansa einerseits, mit Einmalzahlungen von 150 Euro pro Kopf ,half’ man andererseits Menschen in der Pandemie, die Hartz 4 beziehen.
Butterwegge verteilt dicke Watschen für Genossenwangen
So bot der Abend im Schilderhaus viele Watschen für Genossenwangen, denn auch über die Gründe hielt der Ex-SPDler kein Blatt vor den Mund: Schröders Agenda 2010, Hartz 4, Niedriglohnsektor, Erhöhung der Mehrwertsteuer, auf der anderen Seite die Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 Prozent, der Körperschaftssteuer, Verzicht auf Vermögenssteuer: „Die Steuern für die Hyperreichen hat man gesenkt.“
Für den Forscher ist daher die Notwendigkeit einer Umverteilung von Reichtum keine Frage: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: ,Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich’“, zitiert Butterwegge Brecht. „Man müsste das ,Robin-Hood-Prinzip’ anwenden.“
Mülheimer Genossen tun sich schwer mit Umverteilung
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Mit den durchaus erfolgreichen Methoden aus dem britischen Sherwood-Forest allerdings taten sich die Genossen für deutsche Gefilde sichtbar schwer: Wie man den gesellschaftlichen Umbruch hinbekomme, ohne „eine Neiddebatte“ zu beginnen, sorgte sich ein Zuhörer, eine Frau hingegen befürchtete dann eine „Kapitalflucht“ der Millionäre.
Für Butterwegge war zumindest das kein Grund zur Sorge: „Es müsste natürlich nicht nur Deutschland handeln, sondern auch andere Länder. Aber: Die meisten Reichen könnten nicht einfach aus Deutschland verschwinden, denn Lidl, Aldi und Kaufland sind dann immer noch hier.“ Dass eine aktuelle Erfassung des enormen Reichtums der Reichen das Land viel kosten könnte, ist sicher – Butterwegge geht von 750 Millionen Euro Kosten in der Verwaltung aus. Deutschland sei aber durch seine Politik für Reiche selbst schuld, „man hat sich selbst entwaffnet“.
Daten fehlen auch in Mülheim
Über Geld spricht man nicht? Das gilt nicht weniger in der einst führenden Millionärsstadt Mülheim. Die Einkommensunterschiede zwischen den Stadtteilen sind zwar deutlich sichtbar, aber selten in Zahlen. So sind die Angaben über Mülheims Millionäre bereits seit fünf Jahren überholt – 2017 sollen es 75 gewesen sein, 2016 hingegen 65.
Und wie genau die Einkommensverhältnisse auf die Stadtteile verteilt sind, hat die Stadt zuletzt vor gut 15 Jahren untersucht. Das durchschnittliche Einkommen der Steuerpflichtigen betrug damals 30.600 Euro. In Holthausen-Südost verdienten die Steuerpflichtigen im Durchschnitt mehr als 66.000 Euro. In Speldorf-Nordwest verdiente sogar jeder sechste Steuerzahler mindestens 100.000 Euro.
Doch seit langem sind solche Zahlen wegen des Datenschutzes unter Verschluss: Seit 2008 liefert die Finanzverwaltung keine Adressdaten mehr zur Auswertung, so der Landesbetrieb IT NRW.