Mülheim. Die Mülheimer Straßenbahn wird zum Erfolgskonzept, ehe der Erste Weltkrieg der positiven Entwicklung ein jähes Ende setzt – zunächst zumindest.
Seit ihrer Eröffnung erlebt die Mülheimer Straßenbahn einen unerwarteten Aufschwung. Allen Skeptikern zum Trotz: Die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt nehmen häufig die Elektrische, um von der Wohnung zur Arbeit oder zu den Freizeitbereichen und in die Stadtmitte zu gelangen. Das Mobilitätsbedürfnis steigt stetig. Die 13 Triebwagen und sechs Beiwagen der Erstausstattung und ein Viertelstundentakt reichen bereits nach wenigen Monaten nicht mehr. Die städtischen Betriebe müssen sechs Straßenbahnen nachbestellen und den Takt auf siebeneinhalb Minuten halbieren. Mit der Kutsche will niemand mehr fahren. Nur Bauern aus der Umgebung erreichen mit ihren Pferdefuhrwerken noch den Marktplatz vor dem Rathaus.
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Mit der Ausdehnung ihres Straßenbahnnetzes hat die Stadt Mülheim die umliegenden Gemeinden – wie geplant – geschluckt. Broich mit Saarn und Speldorf (ab 1904) und Heißen (ab 1910) sind nicht länger Landgemeinden mit eigenen Rathäusern. Die industriell geprägte Bürgermeisterei Styrum mit Dümpten und Alstaden haben Mülheim und Oberhausen sich schließlich geteilt – nach viel Geschacher bei einflussreichen Firmenbesitzern und dem Regierungspräsidenten zwischen 1904 und 1910. 1908 wird der 100.000 Einwohner geboren – Mülheim ist Großstadt.
Zur gleichen Zeit fährt die Straßenbahn Gewinne für den städtischen Haushalt ein. Aber die nächsten Investitionen stehen an. Die eingemeindeten Vororte fordern den – vertraglich festgeschriebenen – Anschluss an das Schienennetz. Die nächsten Serien von zwölf Triebwagen und sechs Beiwagen werden geliefert.
Mülheimer Ruhrbrücke hält zunächst drei Tonnen aus
Bis 1911 blockiert die schwache Kettenbrücke die Ausdehnung der Mülheimer Straßenbahn nach Broich und Saarn. Die erste Ruhrbrücke kann maximal drei Tonnen tragen. Ein zweiachsiger Triebwagen wiegt knapp mehr als zehn Tonnen. Saarnerinnen und Saarner müssen vom Dorf durch die Ruhraue laufen, auf der Bogenbrücke die Ruhr überqueren und am Fuß des Kahlenbergs vor der Gaststätte „Tante Malchen“ die Elektrische in die Stadt nehmen. Andere laufen den kompletten Weg zu Fuß, weil sie sich eine Fahrt für 20 Pfennig nicht leisten können.
Der Bau der Schlossbrücke auf steinernen Bögen bringt weitere Kilometer neue Gleise in die Stadtteile links der Ruhr. 1914 sind auf dem 39,8 Kilometer langen Streckennetz 68 Triebwagen mit 33 Anhängern unterwegs. 9,2 Millionen Fahrgäste steigen ein. Die Rollenstromabnehmer an der Stange werden von Lyrabügeln ersetzt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbricht diese positive Entwicklung für das umweltschonende Nahverkehrsmittel. Fast alle Fahrer werden zum Kriegsdienst eingezogen. Die Mülheimer Straßenbahn stellt Frauen als Schaffnerinnen und einige Fahrerinnen ein.
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Das Kaiserreich fordert von den Städten Bundmetallablieferungen für die Rüstungsproduktion. Dazu gehören beispielsweise Kirchenglocken und Privatstücke. Ein Drittel der Straßenbahnwagen muss ebenfalls ausgeschlachtet werden. Sie sind danach vorerst nicht mehr einsatzfähig.
Neue Aufgaben für die Mülheimer Straßenbahn
Dafür erhält die Mülheimer Straßenbahn neue Aufgaben. Auf die Fahrgestelle der ausgeschlachteten Wagen montieren Werkstattmitarbeiter Loren Marke Eigenbau „mit großem Fassungsvermögen“. Damit bringt die Straßenbahn Kohle von den Zechen zu den Industriebetrieben. Einige Firmen lassen sich sogar Anschlussgleise bis auf der Werkshöfe legen. Transporte mit Straßenbahnen aus Bochum, Essen oder Gelsenkirchen erreichen ebenfalls örtliche Betriebe. Der Transport mit Lastwagen ist noch unüblich. Pferde und Fuhrwerke sind an die Kriegsfront abkommandiert.
Zusätzlich übernimmt die Straßenbahn den Transport weiterer Güter sowie die „behutsame Beförderung“ der Kriegsverwundeten vom Bahnhof Mülheim (heute Westbahnhof) zu den Lazaretten. Trotz der Kriegswirren wird die Strecke zum Raffelberg gebaut. 1917 erreichen fünf neue Triebwagen (Nummern 69-73) das Depot am Notweg (danach Hindenburgstraße, heute Friedrich-Ebert-Straße), drei weitere 1918. Im letzten Kriegsjahr sind bereits 23 Millionen mit der Mülheimer Straßenbahn unterwegs. Nochmals acht Triebwagen mit 20 Sitzplätzen und einer Motorleistung von 2 Mal 50,5 Kilowatt liefert die Firma MAN 1921.
Das Kriegsende und die neue Weimarer Republik bringen dem Straßenbahnbetrieb kaum Erholung. Mitten in die Inflationsphase fällt sein 25-jähriges Bestehen 1922. Zum Feiern gibt es keinen Anlass. Die Fahrpreise müssen täglich neu berechnet werden. Bei mehreren Millionen Mark für eine Tour stellen die Verantwortlichen die Personenbeförderung für einige Wochen ein. Aus dieser Schwächeperiode entwickelt die Stadtspitze um Oberbürgermeister Paul Lembke ein Arbeitsbeschaffungs- und Verschönerungsprogramm für die Stadt. Die Ruhrufer bekommen Promenadenwege und die Florabrücke. Auf der Schleuseninsel entstehen der Wasserbahnhof, daneben das Wasserkraftwerk und der Bau des heutigen Hauses Ruhrnatur. „Wir brauchen für die Arbeiter in den Betrieben und ihre Familien Plätze zur Erbauung und Erholung“, lautet das Leitmotiv für Kurzweil und Vergnügen. Neue Verkehrsbeziehungen entstehen.
In Holthausen geht im Sommer 1924 die Strecke vom Steinknappen bis zum Hauptfriedhof in Betrieb. Als der Flughafen 1925 öffnet und Mülheim Anschluss an die Welt erhält, beginnt die Planung für den Gleisbau dorthin. Am 5. Juni 1927 ist die Verlängerung bis zur Windmühlenstraße fertig. 17 Monate später, ab 23. November 1928, enden und starten die Straßenbahnfahrten wenige Meter vor dem Flughafenterminal. Am gleichen Tag folgt in Holthausen der Lückenschluss zwischen Dimbeck und Oppspringkreuzung. Zu diesem Zeitpunkt erreicht das Mülheimer Straßenbahnnetz mit rund 44 Kilometern seine größte Ausdehnung.
Straßenbahnen werden zunehmend komfortabler
Zehn neue Triebwagen und 20 neue Beiwagen bringen den Wagenpark auf den, nach damaligen Maßstäben, neuesten Stand. Erstmals haben diese weiche Polstersitze statt harter Holzbänke „Die Innenausstattung war gefällig“, steht in der Chronik zum 75-jährigen Geburtstag der Mülheimer Straßenbahn. Tonnendächer verbessern die Luftzirkulation in den Wagen. Die Zielschilder sind nicht mehr auf dem Dach, sondern oben hinter der Frontscheibe zu lesen. Triebwagen 216 aus dieser Serie steht seit Jahren ohne Räder aufgebockt und fahrunfähig in der Alten Dreherei. Davor dreht er Hochzeitswagen seine runden für freudige Ereignisse durch die Stadt.
Der Zusammenbruch der Börsen und die sich anschließende Weltwirtschaftskrise treffen das Ruhrgebiet hart. Massenarbeitslosigkeit lassen Fahrgastzahlen schrumpfen. Bis Ende 1933 (dem Jahr mit Hitlers Machtergreifung) fallen sie auf 7,2 Millionen. Das Teilstück Kahlenberg bis Wilhelmsplatz der ersten Hauptlinie ist bereits seit 23. November 1931 ohne Betrieb. Gleise und Oberleitung bleiben allerdings in der Dohne – „vielleicht brauchen wir sie noch“, lautet eine Protokollnotiz.
An einen weiteren Netzausbau ist im so genannten „Dritten Reich“ unter dem straßenbahnfeindlichen und Automobile bevorzugenden Naziregime nicht zu denken. Die Neuordnung der Innenstadt mit dem Durchbruch der Schlossstraße bringt jedoch eine neue, zweigleisige Straßenbahntrasse durch Mülheims Hauptgeschäftsstraße. In der Stadtmitte entsteht ein neuer Verkehrsknoten. Die Gleise auf der Bahnstraße bleiben als Ausweichstrecke ohne Linienbetrieb vorerst liegen. Am oberen Ende, wo sich heute der Kurt-Schuhmacher-Platz über dem Straßentunnel ausstreckt, biegen ab 1. Oktober 1935 die Bahnen Richtung Dümpten, Heißen und Holthausen ab. Oder sie erreichen von dort kommend die Stadtmitte.
Die Fahrgastzahlen steigen wieder langsam an. Arbeitsbeschaffungsprojekte der Naziherrschaft sowie deren Ankurbeln der Rüstungsproduktion spüren auch Mülheimerinnen und Mülheimer. Mit Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Die Ereignisse von 1914 wiederholen sich: Zahlreiche Straßenbahnfahrer und Mechaniker werden eingezogen, müssen an den Fronten sinnlos sterben. Frauen werden als Schaffnerinnen und als Fahrerinnen rekrutiert, „damit die Räder rollen für den Sieg“, wie die Kriegspropaganda damals aus den Volksempfängern dröhnt. Wieder steigen die Fahrgastzahlen rasant an – 27,6 Millionen sind es 1942.
Straßenbahn funktioniert zunächst noch halbwegs
Kein Buntmetalleinzug, sondern Bomben zerstören bei einem Luftangriff 1943 im Depot an der Hindenburgstraße (heute Friedrich-Ebert-Straße) 20 Straßenbahnwagen. Beide Hallen sind stark beschädigt. Um fahrfähige Straßenbahnen vor weiteren Fliegerangriffen zu schützen, werden sie nachts unterhalb des Kahlenbergs abgestellt – die Gleise liegen noch auf der Dohne. Die Straßenbahn ist das einzige, noch halbwegs funktionierende Verkehrsmittel der Stadt. Autos, Motorräder und später auch Fahrräder fallen aus – es gibt keine Ersatzteile mehr. Die zunehmenden Bombenangriffe, Verdunkelungen und Zerstörungen machen den Frauen und wenigen Männern den Dienst zur Qual. Zerborstene Gleise und abgerissene Oberleitungen oder zerstörte Brücken sorgen häufig für Streckensperrungen. Oft bricht die Stromversorgung zusammen.
Als die Amerikaner am 11. April 1945 unter Artilleriebeschuss in Mülheim einrücken, wird der Straßenbahnbetrieb komplett stillgelegt. Für die Mülheimerinnen und Mülheimer ist der grausame und leidvolle Krieg endlich vorbei. Bereits Ende April befördern die ersten Straßenbahnen wieder Fahrgäste auf den betriebsfähigen Streckenstücken. Nur noch 33 Fahrzeuge sind einsatzbereit. Kupfer für die Reparatur der Motoren und Oberleitungen fehlt. Daher zieht für einige Wochen eine Dampflokomotive Straßenbahnwagen zwischen Stadtmitte und der Thyssenbrücke.
Die Bevölkerung braucht ihre Straßenbahn dringend. Die meisten Bürgerinnen und Bürger sind aus der zerbombten Innenstadt in die Außenbezirke gezogen. Von dort sind die Wege zur Arbeit und zu den Schwarzmärkten weit. Gleichzeitig sind während des Wiederaufbaus täglich Trümmerzüge auf den Straßenbahngleisen unterwegs. Sie schaffen eine Million Tonnen Schutt aus der Stadt und bringen auf der Rücktour Kohlen zum Heizen mit. In dieser Zeit stehen Personal und Werkleitung vor den schwierigsten Aufgaben seit Eröffnung der Mülheimer Straßenbahn.
Das 50-jährige Betriebsbestehen geht am 9. Juli 1947 in den Anstrengungen des Wiederaufbaus unter. Fast wöchentlich kommen Erfolgsmeldungen über reparierte Streckenabschnitte. Die harten Winter machen es Fahrgästen und Personal ebenfalls schwer, unter normalen Bedingungen unterwegs zu sein. Die Währungsreform am 20. Juni 1948 bringt erste, halbwegs normale Verhältnisse. Zuerst sinken die Fahrgastzahlen wegen der neuen Deutschen Mark und der Pfennige auf 24 Millionen. Aber die Menschen fassen wieder Mut, viele haben wieder Arbeit und stiegen wieder in die Straßenbahnen ein.