Mülheim. Nekes, Schlingensief und ,Helge’ sind heute eng mit Mülheim verbunden. Warum aber wurde die Ruhrstadt plötzlich zum Zentrum des Films in NRW?
„Irgendwie“ sei er auch „in diese Filmbüro-Szene gerutscht“, meint Helge Schneider, durch die Mülheimer Filmemacher Werner Nekes und Rainer Komers, die er „aus dem Eduscho“ kannte. Anfang der 1980er Jahre jedenfalls – bevor ,Helge’ Mülheims berühmtester Jazzer und Komiker wurde – legte das Land ausgerechnet am Schloß Broich die Wurzeln für die nordrhein-westfälische Filmförderung: das Filmbüro NW. Und brachte – ausgestattet mit Landesmillionen – an der Ruhrstadt erstaunliche Talente zum Vorschein.
Heute ist das Filmbüro 42 Jahre alt und dort, wo es jeder von Beginn an vermuten würde: in der Medienstadt Köln. Doch hier, an der Ruhr, fing alles vor rund vier Jahrzehnten an, erinnert sich Christian Fürst, Mülheimer, Filmemacher und inzwischen Filmproduzent. Der wesentliche Antrieb für die Verortung in der Ruhrstadt war wohl Mülheims bekannter Experimentalregisseur und Filmsammler Werner Nekes. Der soll seinen guten Draht zur Stadtverwaltung genutzt haben, um ein kostenloses Büro mit Telefon und Postversand zu ergattern.
Am 12. Mai 1980 startete die Filmförderung für ganz NRW in Mülheim
Und setzte sich mit gewitztem Pragmatismus sogar gegen die Landeshauptstadt durch, die um die Schaltstelle für die Filmförderung mit buhlte. „Das war entscheidend“, unterstreicht Fürst, der Ende der 80er Jahre hinzustieß und 17 Jahre (2005-2022) lang Schatzmeister war. Der 12. Mai 1980 gilt als Startschuss. 71 Filmemacherinnen und -macher aus dem Dokumentar-, Spiel- und Experimentalfilm standen Pate, um „die unabhängige Filmarbeit im Lande zu fördern, die Zusammenarbeit zu verbessern und Einfluss zu nehmen auf die Entwicklung der Filmförderung im Lande“, hieß es.
Geplant war Großes, sogar die Einrichtung von Filmwerkstätten in verschiedenen Städten. Denn die Entwicklung des Films könne nur dort vorangehen, wo regionale Fördermaßnahmen zum Tragen kommen.
Und das kam sie: ausgestattet mit 2,45 Millionen D-Mark. „Zu wenig für das größte Bundesland“, kritisierte schon früh Filmregisseur Adolf Winkelmann. Hamburg allein würde schon drei Millionen in die Hand nehmen, da wären zehn für NRW wohl angemessen, schrieb er anlässlich der Unterzeichnung der Vereinbarung zur kulturellen Filmförderung im September 1980. Gegen kulturprägende Giganten aus den USA, gegen Kojak, Dallas und Co. komme man damit kaum an: Der meistfotografierte Baum in den heimischen Medien sei … „die Palme“, unkte dieser.
Gefördert wurde nach filmischen Kriterien und nicht nach wirtschaftlichen
Und doch strahlte das Filmbüro mit seinen vergleichsweise bescheidenen Mitteln von Mülheims Schloss aus: Von einer aufregenden Aufbruchstimmung berichten die Mitgründer, man wolle „dem Land seine Bilder geben“. So förderte die Filmjury eben doch den umstrittenen Film „Die Venus im Pelz“ von Monika Treut, weil sie aus Filmemachern bestand und eben unabhängig war – im Gegensatz zum Expertengremium des Bundesinnenministeriums, welches vom damaligen Minister Friedrich Zimmermann überstimmt wurde, weil dieser die „Mischung aus Fäkaliensprache und Erotik niemandem zumuten“ wollte.
Das Filmbüro jedoch war stolz auf den Mut seiner Jury: „Die Kriterien waren filmisch, nicht wirtschaftlich“, beschreibt Christian Fürst die Ziele. 1988 förderten sie zudem Treuts „Die Jungfrauenmaschine“. „Monika, du kannst dein Projekt auch auf Klopapier bei uns einreichen“, erzählt Treut heute anekdotisch. Doch damit hatte das Mülheimer Filmbüro nicht nur einen – sehr frühen – Anteil an der Entwicklung der heutigen New Queer Avantgarde, sondern auch einen Instinkt für Talente und gesellschaftliche Entwicklung bewiesen.
Filme voller Schweiß, Bandscheibenvorfälle und Apfelmusschlacht
Filmemacher siedelten sich um das Büro im Schloß an. Auch für Fürst war die Begegnung mit deutschen Filmemachergrößen wie Christoph Schlingensief, Rainer Komers, Nekes und Dore O. wohl der entscheidende Schritt ins ,Business’. „Ich bin da reingesaugt worden“, schildert der heute 59-jährige seine Begegnung mit Schlingensief, und muss lachen: „Ich bin nicht losgekommen.“ Mit „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“ stieg er ein, fünf Filme mit Schlingensief wurden es.
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An die Dreharbeiten von Christoph Schlingensiefs berüchtigtem Werk „Das deutsche Kettensägenmassaker“ auf dem damaligen Meidericher Hüttenwerk (heutiger Landschaftspark Duisburg-Nord) erinnert sich Fürst: „Es sah aus wie nach einem Vulkanausbruch. Verbrannte Erde, die sich die Natur zurückeroberte. Funktionsbereiche der Eisenhütte wurden zu Schauplätzen von Christophs Massaker.“ Es sei ein „echtes Abenteuer“ gewesen, viel Schweiß bei der Arbeit, Bandscheibenvorfälle, Nervenzusammenbrüche und „ein sagenhaftes Abschlussfest, das in einer orgiastischen Kuchen- und Apfelmusschlacht in der Küche endete“.
So ranken sich nicht nur auch heute noch bekannte deutsche Filmemacher um das Mülheimer Filmbüro, sondern ebenso etliche Anekdoten. Was hat es mit dem Mülheimer „Club 69“ auf sich und wo war der eigentlich? Wie etwa kam Helge Schneider zu seiner berühmten Perücke?
Diese und weitere Perlen der auch Mülheimer Geschichte sind inzwischen niedergelegt in einem gut 400-Seiten-starken Band „Achtung, Achtung, hier spricht das Filmbüro“, der bei Strzelecki Books (www.strzelecki-books.com) und einigen Mülheimer Buchhandlungen zu haben ist. Herausgeber ist Christian Fürst.